Ist die „Einfachheit“ schön?
Skizze von A. Nimzowltsch
In Theaterrezensionen stößt man zuweilen auf folgende Sentenz: „Das Spiel des Fräuleins N. war in seiner Schlichtheit von ergreifender Wirkung“. Sucht man nun eine solche Sentenz in ihrer aphoristischen Kürze zu entkleiden, so kann man nicht umhin, zu erkennen, dass der durch unsere Sentenz umschriebene Vorgang eigentlich recht komplizierter Natur ist. Kampftechnisch ausgedrückt präsentiert sich der letztere ungefähr wie folgt: eine aus „Rolle“ und „Darstellung“ zu einem Ganzen verschmolzene Einheit unternimmt eine Attacke auf das Gefühl des Zuschauers, der sich auf Gnade und Ungnade ergibt, weil — und nun wäre die doppelte Art der Mitwirkung der besagten Schlichtheit hervorzuheben. Diese doppelte Art der Mitwirkung besteht nun darin, dass die Schlichtheit, erstens, nicht den geringsten Zweifel an der Echtheit des Gebotenen aufkommen lässt (Pose würde verstimmend wirken) und dass, zweitens, jede störende Einmischung des forschenden Geistes unnötig erscheint, denn Schlichtheit ist nicht nur eine technische Form, sie bedeutet auch zugleich einen Mangel an Problemen. (Es ist klar, dass das Denken-Müssen den Genuss stören würde.) So ungefähr sieht der Sieg der Einfachheit über das Gemüt des Zuschauers aus, und wir müssen gestehen, es ist dies ein ehrlicher, wohlverdienter Sieg. Aber es gibt auch andere, unverdiente Siege, und mit diesen hätte sich nun unsere Untersuchung zu beschäftigen.
Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass die Einfachheit nicht bloß durch die oben angedeuteten, sozusagen legitimen Vorzüge besticht. Betrachten wir beispielsweise den berühmten amerikanischen Film „Die Mutter“. (Nicht zu verwechseln mit den zwei gleichnamigen Filmen deutscher bzw. russischer Provenienz.) Dort spielt die Carr ein altes Mütterchen, das von ihren erwachsenen Kindern herzlos behandelt wird. Die Carr weiß die unendliche Güte dieser gekränkten Mutter mit allereinfachsten Mitteln darzustellen, und siehe da, die Wirkung ist enorm, man ist bis zu Tränen gerührt. Die tiefschürfende Analyse zeigt aber, dass die Ideologie der Carrschen „Mutter“ sich ganz mit der sentimental verlogenen Ideologie der Kitsch-Literatur deckt. Diese Art der Güte gibt es nicht bei einem Wahrheitssucher wie Tolstoi, sie blüht und gedeiht vielmehr bloß im Blumengarten der Filmdichter und dem der Wochenblatt-Literaten. Des weiteren wirkt die Carr durch den technisch raffinierten Trick der „Anonymität“: indem sie die Mutter mit einem Minimum von persönlichen Charakterzügen ausstattet, gestattet sie so dem einzelnen, an seine Mutter zu denken. Die echte Kunst kennt jedoch keine Anonymität. Jede Figur soll aus der Hand des Autors eine Menge kleiner Charakterzüge mit auf den Weg bekommen, die Figuren „leben“, weil die Charakterzüge einer stetigen Entwicklung unterworfen sind; alles andere ist Kitsch.
Man kommt nun langsam dahinter und erkennt, dass das Gefühl des Zuschauers nur allzu häufig durch Zuhilfenahme von Beiwirkungen überrumpelt wird. Ganz gewiss steckt in der Einfachheit von heute mehr Kitsch und (von) gut versteckten technischen Raffinements, als man uns glauben machen möchte!
Viel greller wird das Bild, wenn wir uns vom Theater dem „Spiel“ zuwenden: während beim Theater der vom Zuschauer empfangene „erste Eindruck“ trügerisch sein kann (es aber doch nicht unbedingt zu sein braucht!), ist letztgenannter im Schach überhaupt nicht zuständig! Folgende zwei Beispiele mögen die Wahrheit dieser Behauptung dartun.
- Die Philidorsche Gewinnführung von Turm und Läufer gegen Turm stellt sich beim ersten Nachspielen als ein „ewiges Hin- und Herziehen“ dar. Erst nähere Prüfung ergibt die wunderbare Zweckmäßigkeit und Harmonie der in Frage kommenden Manöver: der „erste Eindruck“ durfte also bei der Beurteilung des ästhetischen Wertes überhaupt nicht zu Rate gezogen werden.
- Der eine der Partner erwählt einen Stein des Gegners zum Angriffsobjekt, aber plötzlich wird er seinem Plane untreu und überträgt den Angriff auf einen anderen Stein. Auch hier ist der erste Eindruck überhaupt nicht zuständig: erst tiefgründiges Nachdenken wird feststellen können, ob dieses Übertragen eine glatte Inkonsequenz oder aber eine durch positionelle Forderungen diktierte Maßnahme war.
Gewiss ist Schach ein Gebiet der Kunst, aber wer sagt, dass das Kunstwerk für sich selbst sprechen müsse! Denken Sie doch bloß an die ellenlangen Erläuterungen von Bernard Shaw, die er seinen Stücken voransetzt. Eine Schachpartie ohne eingehende Glossen ist und bleibt ein Torso!
Wir werden uns in einem weiteren Artikel mit der Lösung der Frage befassen, ob die guten Züge im Schach und einigen anderen Spielen fern- oder naheliegend seien (also einfach oder komplikatorisch), aber schon heute dürfen wir mit einem beträchtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Schönheit tief im Gedanklichen verankert sein müsse: schön ist nicht die Einfachheit, schön ist das gedankenreiche, gehaltvolle Spiel!
Quelle: Denken und Raten, Nr. 25, 23.06.1929