Der Remisspieler des Typus Capablanca als modernes Vexierspiel
Von A. Nimzowitsch
Wenn man sich nur hie und da die Zeit dazu nehmen wollte, über das Wesen der Dinge nachdenklich zu sinnen, so müßte man doch darüber „gestolpert“ sein (so sehr ragt diese Eigentümlichkeit hervor), daß der Remisspieler von heute einer ganz anderen Klasse angehöre als der Remissier von anno dazumal. Einst war es ein Süchting (also ein Meister zweiter bis dritter Klasse), heute ist es ein Capabianca, der den Typus des Remisspielers repräsentiert. Was aber für einen Süchting natürlich erscheint ist für einen Mann wie Capa rätselhaft zu nennen: wozu braucht denn ein Spieler von Capas Klasse auf Remis zu schieben? Ist er etwa den anderen Meistern in komplizierten Stellungen nicht gewachsen?
Selbstredend ist er das. Die Pointe der ganzen Sache liegt eben nur darin, daß der moderne Remisspieler gar keiner ist. Er denkt gar nicht daran, auf Remis zu spielen, er nimmt das Remis entgegen als eine bittere Notwendigkeit, wenn Sie wollen, als einen Fluch der erschöpften Caïssa, nicht aber als eine in jeder Beziehung nette und erfreuliche Angelegenheit (wie es Süchting tat). Er fürchtet den Verlust und ist bereit, gewisse „Opfer“ zu bringen, um die Verlustgefahr auf ein Minimum zu reduzieren. In diesem Sinne verzichtet er zuweilen auf eine hübsche, aber unklare Angriffswendung. Aber seine Stellung ist doch voller Tücke und innerer Stärke (wie man gleich sehen wird) und deshalb ist es so schwer, sie anzugreifen. Daß er sich Stellungen aufbaut, die stark und entwicklungsfähig sind, bedeutet ihm selbst ein Auf-Gewinn-Spielen, mögen die kurzsichtigen Leute dieses noch so sehr für „Remisschieberei“ halten.
Zweierlei Dinge sind es vor allem, die er meidet. Verwicklungen? Nein! Die meidet er erst an dritter Stelle und zwar nicht mehr primär, sondern sekundär. Die ihm beinahe organisch angebaute, also primär zu nennende Aversion gilt vielmehr a) der lockeren, b) der eingeengten Stellung. Die gelockerte, wenig massiv gebaute Position kommt in seinen Partien so gut wie niemals vor, wie sollte sie auch, er „konsolidiert“ ja immerzu. Die eingeengte Stellung ist ihm dito äußerst unsympathisch und verlangt er von ihr ein starkes Maß an Gegenaktivität, wie z. B. die e-Linie in der Steinitz-Verteidigung des Spaniers, um sie erträglich finden zu können. Verwicklungen meidet er nur dann, wenn sie in ihren äußersten Konsequenzen schwer zu überschauen sind oder aber falls sie im Resultat zu gelockertem eigenen Aufbau führen könnten. Im Prinzip ist er aber durchaus nicht abgeneigt.
Um dem Verständnis des modernen Sicherheitskommissarius (dieses Wort dürfte ihn viel treffender charakterisieren als das recht unzutreffende „Remisspieler“) näher treten zu können, wollen wir nun untersuchen, auf welche Art und Weise er zu bekämpfen sei. In diesem Sinne muß zuerst festgestellt werden, daß eine wilde Attacke vollkommen absurd wäre, denn hierbei würde die innere Widerstandsfähigkeit der konsolidierten Position erst recht zur Geltung kommen. Dagegen möchten wir gern darauf hinweisen, daß eine Angriffskombination mit konsolidierendem Zwischenzug als ausgezeichnetes Spezifikum zu empfehlen sei.
Ein zweites Beispiel zeigt die Kissinger Partie Reti-Bogoljubow,
Noch wesentlicher für unsere Betrachtung ist aber die Feststellung, daß Schwarz in der Diagrammstellung III wie folgt in Vorteil kommen konnte:
Wesentlich ist diese Feststellung namentlich auch aus dem Grunde, weil sie zeigt, daß eine aus Konsolidierung und Phantastik gebildete Mischung stark genug ist, um selbst eine Capa-Stellung erfolgreich angreifen zu können. Und nur wenig verliert dieses Beispiel an Beweiskraft, wenn man sich vorhält, daß die fragliche Position (Diagramm III), wie gesagt, nur halb-capablancisch anmutete. Ob halb oder ganz capablancisch, gegen eine richtige Mischung von Phantastik und Konsolidierung kann auch sie nicht aufkommen.