3d Die Läufer

Das stolze Läuferpaar - so nennt man die beiden Läufer bisweilen - ist in der Hand des kundigen Thebaners eine furchtbare Waffe. Und trotzdem habe ich mich einen Moment lang mit dem - ich gestehe es ein: frevlen - Gedanken getragen, diese Waffe in meinem Buche nicht näher untersuchen zu wollen. Mein System - so sagte ich mir nämlich - kennt bloß zweierlei Dinge, die es der eingehenden Untersuchung für würdig erachtet: die Elemente und die Stratageme. Beispielsweise war uns der Isolani, der uns irgendwie mit dem Problem der Hemmung verwachsen schien, ein Stratagem. Wo aber wären die stolzen Läufer unterzubringen?

Die eben aufgeworfene Frage ist nicht ohne weiteres als müßig oder spielerisch zu verbannen, vielmehr scheint sie uns von entschiedenem theoretischen Interesse zu sein. Es würde zu weit führen, meine diesbezügliche Ansicht hier näher begründen zu wollen, daher möchte ich mich bloß damit begnügen, das Resultat mitzuteilen: Ich bin also zu der Auffassung gelangt, daß der Vorteil der „beiden Läufer“ weder als Element in unserem Sinne noch aber auch als Stratagem anzusprechen ist; die beiden Läufer sind und bleiben für mich schlechterdings eine Waffengattung. Die Prüfung der verschiedenartigen Waffengattungen bzw. die Feststellung ihrer jeweiligen Anwendbarkeit liegt aber ganz und gar nicht im Plane meines Buches (dagegen hat Berger genannten Gesichtspunkt zum Leitmotiv seines Endspielbuches gemacht). Trotzdem darf der Leser natürlich mit Recht erwarten, daß ich ihn über die Gefahren, die das feindliche Läuferpaar involviert, nach Möglichkeit aufkläre. Dieser Erwartung wird im nachfolgenden entsprochen.

Besonders eklatant zeigt sich die Überlegenheit des Läufers über den Springer in nachfolgend skizzierter Gruppe von Stellungen: jeder der Partner besitzt einen (oder mehrere) vom eigenen König unterstützten Freibauern (siehe Diagramm 171); der Läufer siegt, denn er ist darin wunderbar, feindliche Freibauern an ihrem Vormarsch zu hindern (bzw. genannten Vormarsch zu verlangsamen).

Diagramm 171

Überlegenheit des langschrittigen Läufers über den kurzatmigen Springer. Schwarz wäre übrigens auch bei der Springerstellung auf c3 oder d4 bzw. f8 ohne Rettung

Dagegen deckt das Spiel im Diagramm 171a die Hauptschwäche des Läufers auf: wenn es nämlich gilt, Terrain zu verteidigen, so ist er für gewöhnlich hilflos, denn wie könnte ein schwarzfeldriger Läufer weiße Punkte decken! Das für den Läufer beschämend wirkende schwarze Vordringen entwickelt sich etwa wie folgt (siehe Diagramm 171a):

Diagramm 171a

Die Fälle in den Diagrammen 171 und 171a bitten wir nun als die beiden Pole zu betrachten, zwischen denen sich die restierenden Fälle bewegen: Langschrittigkeit, so heißt der Vorteil; Schwäche der Felder von entgegengesetzter Farbe, so heißt der schwere Nachteil, der dem Läufer zu eigen ist.

Noch eins! Die Stellung Weiß Lg2, Bc5, Schwarz Sb8, Bc6 (mit anderen Figuren und Bauern mehr) ist für die Überlegenheit des Läufers über den Springer ebenso wenig beweiskräftig, wie die Stellung Weiß Bc5, Lb4, Schwarz Bc6, Se6 es für dessen angebliche Unterlegenheit wäre. In beiden Fällen ist es das strategische Übergewicht (nämlich der von uns seinerzeit analysierte Vorteil der aggressiven Figurenstellung gegenüber der passiven des Gegners), das sich geltend macht, nicht aber die an und für sich etwa bestehende Überlegenheit der betreffenden Waffengattung.

Wir resümieren: Die Hauptschwäche des Läufers besteht in der Schutzlosigkeit der Felder von entgegengesetzter Farbe, die Hauptstärke – in der Langschrittigkeit. Und nun erscheint es plötzlich plausibel, warum zwei Läufer so stark sein sollen. Der Grund ist einleuchtend, die Stärke erscheint verdoppelt, die eben hervorgehobene Schwäche aber wird durch den „anderen“ Läufer neutralisiert.

Es ist kaum möglich, alle verschiedenartigen Situationen aufs Papier zu bringen, in denen die beiden Läufer unangenehm werden können. Wir wollen aber versuchen, die allerwichtigsten zu notieren.

1. Die Horrowitz-Läufer. So werden zwei Läufer genannt, wenn sie zwei benachbarte Diagonalen bestreichen (zum Beispiel Lb2 und Ld3), um solchermaßen vereint die feindliche Rochade zu beschießen. Ihre Wirkung ist oft verheerend: der eine Läufer erzwingt einen feindlichen Bauernzug, der dem zweiten Läufer die Wege ebnet (siehe Diagramm 172).

Diagramm 172

1. De4 lockt den g-Bauern vor und ebnet somit dem Lf2 den Weg

1. De2-e4 erzwingt den lockernden Bauernzug 1. ... g7-g6, worauf Lf2 entscheidend eingreift. Ähnlich verläuft die Sache in folgender Partie:

Als eine Abart der Horrowitz-Läufer, und zwar eine von der edleren Sorte, möchte ich die Läufer im Diagramm 173 ansprechen; von Königsattacke ist hier keine Spur.

Diagramm 173 (Schema)

Zwei Läufer greifen eine Bauernmasse an mit der Absicht, Standplätze zu erobern

Aber der, wenn zwar nicht sehr intensiv, so doch immerhin unangenehm wirkende Angriff gegen a7 (ich habe nur die wichtigsten Steine notiert) wird den Nachziehenden schließlich zu der Formation Ba7, b6, c5 antreiben, und damit ist dann der Boden für den „anderen“ Läufer geebnet, denn dann folgt a4, b3 und dem weißfeldrigen Läufer eröffnen sich die Standplätze a6, b5 und besonders c4. Auch erscheint die schwarze Majorität gelähmt. Ein solches Stratagem finden wir in Maróczys Partien nicht selten.

2. Eine Bauernmasse, die aber durchaus keine „Majorität“ zu bilden braucht, wälzt sich, von einem Läuferpaar dirigiert, ziemlich weit vor und führt so zur Einengung der feindlichen Springer. Schließlich ergibt sich die Möglichkeit eines Durchbruchs. Als Beispiel diene die bekannte Partie Richter-Tarrasch. Siehe Diagramm 174.

Diagramm 174

3. Einengung der Springer bei gleichzeitig geführtem Kampf gegen eine Bauernmehrheit. Eine recht schwierige Aufgabe, wird man sagen. Es gehöre dazu hervorragendes technisches Können. Dem ist aber nicht so. Wer in der Kunst, feindliche Bauernkomplexe hemmen und blockieren zu können, einigermaßen bewandert ist, der wird sehr bald mit Befriedigung feststellen, daß in der fraglichen Gruppe von Stellungen die Einengung der Springer leichter zu bewerkstelligen ist, als in der unter 2 vorgeführten. Mit einem gewissen Recht könnte man sagen: die erfolgte Hemmung der Bauernmajorität zieht automatisch die Einengung der Springer nach sich; will besagen, daß die blockierten Bauern sich leicht zu Sperrsteinen (für die Springer) auswachsen können. Man sehe folgendes Beispiel:

Diagramm 175

4. Die beiden Läufer im Endspiel. Die von uns oben näher präzisierten starken Seiten der Läufer treten kombiniert auf. Als Ideal betrachten wir die erfolgte Umwandlung eines nur in der Waffengattung begründeten Vorteils in einen als solchen klar wahrnehmbaren strategischen Vorteil, zum Beispiel den der aggressiven Figurenstellung gegenüber der defensiven des Gegners (siehe 6.2 Die aggressive Turmstellung als charakteristischer Endspielvorteil). Dieses kombinierte Spiel mit der erwähnten Umwandlung als Ideal wird an folgendem Beispiel ersichtlich.

Diagramm 176

Für die Verherrlichung der Läufer ist nun genug getan. Nun einige wenige Worte über Situationen, in denen sie - die Läufer - sich weniger gut ausnehmen. Das sind die ganz oder halb geschlossenen Stellungen, siehe beispielsweise Partie 33. Gegen einen unangreifbaren Zentralspringer sind die Läufer überraschend schwach. Selbst in der Diagrammstellung 177 scheint mir der Schwarze die Horrowitz-Läufer aushalten zu können.

Diagramm 177

Die schwarze Stellung scheint mir verteidigungsfähig zu sein

Damit ist das 3. Kapitel abgeschlossen.