6.1 Die Zentralisierung
a) des Königs, b) der kleinen Figuren, c) der Dame. Die Fahrt nach dem Königsschloß. Wie die alte Majestät sich vor Donner und Blitz zu schützen weiß. Das Versteck. Der Brückenbau.
a) Die große Beweglichkeit des Königs bildet bekanntlich eines der Hauptmerkmale aller Endspielstrategie. Im Mittelspiel ist der König bloßer Statist, im Endspiel dagegen – einer der Hauptakteure. Es gilt also ihn zu „entwickeln“, ihn der Kampflinie näher zu bringen. Dieses wird erreicht durch Zentralisieren des Königs. Also Regel: Beim Anbruch des Endspiels setze sich der König in Bewegung und strebe der Mitte zu, denn von dort aus kann er je nach Bedarf nach rechts oder links schwenken (den gegnerischen Königsflügel oder Damenflügel angreifen). Es ergibt sich hierbei etwa folgendes Bild: Langsamen Schrittes nähert sich der König der Mitte zu, dort angelangt versammelt er sämtliche Minister und Ratgeber um sich, stärkt sich durch ein opulentes Frühstück, konsultiert seine Minister, frühstückt noch einmal (der König frühstückt zum Unterschiede von gewöhnlichen Sterblichen zweimal), konsultiert wiederum die versammelten Ratgeber und erst dann wählt er den ihm (und den Ratgebern) gutdünkenden Kriegsschauplatz. Dieses Bild soll die für den König bezeichnende Langsamkeit in Beschluß und Ausführung uns vor Augen führen helfen.
1. Beispiel: Weiß Kg1, Schwarz Te8 (nur die wichtigsten Akteure sind notiert).
1. Kg1-f2. Strebt der Mitte zu und deckt gleichzeitig die Basis (Punkte e1 und e2) gegen den Einbruch Te8-e2 oder Te8-e1.
2. Beispiel: Weiß Kg1, Td2, Bb2, f4, g3, h2; Schwarz Kg8, Tb3, Bb7, g7, h7.
Auch hier geschieht zunächst Kg1-f2-e2 und nun wählt Weiß den Damenflügel: Ke2-d1-c2, deckt solchermaßen b2 und entlastet den Turm d2, der dann unternehmend wird, etwa durch Td7.
3. Beispiel: Im Diagramm 75 geschah
Diagramm 75
An diesem Beispiel haben wir das zentrale Vordringen von einer neuen Seite kennen gelernt: nicht bloß soll das Vordringen dem eigenen Könige Terrainfreiheit verschaffen helfen, nein, außerdem soll noch der feindliche König an Terrain einbüßen. Bei solchen und ähnlichen Kämpfen legt der König bei aller äußeren Würde eine unglaubliche Kleinlichkeit an den Tag, er kämpft um ein Feld, als ob es um ein Königreich ginge! Also beherzige der Lernende diese Lehre: er lasse kein Mittel unversucht, um den eigenen König so weit als möglich „zentral“ vorzubringen, teils um des eigenen Königs willen, teils aber um den feindlichen König nach Kräften einzuschränken, ihm sei kein Platz an der Sonne gegönnt!
b) Das Zentralisieren ist keineswegs als reine Königsspezialität aufzufassen, auch die anderen Figuren entwickeln eine ähnliche Tendenz. Stellung: Weiß Ke1, Sb3, Ba5, e2, f2, g3, h2; Schwarz Kf8, Lg6, Ba6, d6, f7, g7, h7.
Hier kann sowohl Ke1-d2-c3-d4 als auch 1. Sb3-d4 nebst e3 gewählt werden. Das Zentralisieren des Springers hat, ähnlich wie das im vorigen Beispiel der Fall war, eine doppelte Tendenz:
- Der Springer schielt von d4 aus nach beiden Flügeln hin.
- Er schränkt den gegnerischen König ein (hindert die Reise über e6 nach d5).
Bei vorhandenem gegnerischem Turm bildet der zentralisierte Springer einen Schutzwall für den eigenen König, der sich dann gleichfalls (hinter dem Rücken des Springers) zentralisiert. Dr. Tartakower, der geistreiche Verfasser der „Hypermodernen Schachpartie“, würde das eine Figureninsel nennen. Das einfachste Beispiel wäre Weiß Ke2, Sc2, Be3, f2, g2, h3; Schwarz Kf8, Td8, Bf7, g7, h7.
c) Es gibt keinen eindringlicheren Beweis für die Bedeutung der Zentralisierung als die Erkenntnis dessen, daß selbst die Dame, die doch wahrhaftig, selbst am Rande stehend, genügend wirkt, daß selbst diese nach Zentral-Postierung strebt. Das Ideal wäre „zentrale“ Dame, von einem Bauern gedeckt und ihrerseits Bauern deckend. Unter solchem Protektorat stehend kann dann der eigene König weite Reisen ins feindliche Land unternehmen! Siehe Diagramm 76.
Diagramm 76
Die zentralisierte Damenstellung, gedeckt und deckend, gestattet die weiße Königsreise ins feindliche Land. Reiseziel b6 oder g6 (Frontalangriff).
Weiß läßt sich den Wind um die Ohren blasen und zieht, einem Märchenhelden gleich, froh und munter in die weite Welt. Und schließlich kommt er an ein herrliches Schloß, und dort harrt seiner … das junge märchenhaft schöne Königstöchterlein … Genau so geht es hier unserem Kf3, nur mit dem Unterschiede, daß ihm gleich zwei Schlösser winken: die Idealstellungen b6 und g6 (siehe auch Diagramm 64). Nach langen Irrfahrten gelangt er schließlich auf eins dieser Felder, kommt in Sicherheit und gewinnt. Man vergleiche auch das Diagramm 87.
Das Versteck und der Brückenbau.
Wir haben unseren wanderlustigen Schachkönig soeben mit dem jederzeit frohgesinnten und hoffnungsfrohen Wanderburschen aus dem Märchen verglichen. Aber zwischen Wirklichkeit und Märchen gibt es zuweilen kleine, realistisch gefärbte Unterschiede: Im Märchen donnert und blitzt es häufig genug, aber niemand holt sich einen noch so unbedeutenden Schnupfen (wenn auch die böse Königin zuweilen etwas „verschnupft“ zu sein pflegt), in der trivialen Wirklichkeit aber bildet eine Erkältung ein nicht untypisches Vorkommnis. Um sich vor der Gefahr einer Erkältung zu schützen, sorge der wanderlustige König beizeiten für ein brauchbares Versteck. Ein solches wird ihm im Falle eines Ungewitters treffliche Dienste leisten.
Stellung: Weiß Kc5, Ta8, Ba6; Schwarz Kg7, Ta1 (siehe Diagramm 77).
Diagramm 77
Ähnlich verhält sich die Sache in der Stellung: Weiß Ke5, Tg1, Bd5; Schwarz Kd8, Ta2.
So sind wir Menschen nun einmal „gebaut“, daß wir, wenn wir zufällig etwas für uns Ersprießliches gefunden haben, daß wir dann dieses zufällig Gefundene aus freier Willensbestimmung herstellen zu lernen uns bemühen. So auch hier. Die Endspieltechnik verlangt es, daß man sich sein Versteck selbst zu bauen vermag, etwa wie der „Pfadfinder“ sein Zelt. Hierzu verhilft der Brückenbau. Siehe Diagramm 78.
Diagramm 78
Dieses entzückende Spiel gehört zu – alltäglichsten Manövern. Ein Beweis für die wunderbare Schönheit des Schachspiels!
Interessant wäre es zu untersuchen, ob nicht auch sofortiges 1. Te5 angängig ist. Letzteres ist wirklich der Fall; auch 1. Te5 gewinnt, allerdings weniger überzeugend als die „Autorlösung“ 1. Te4.
Der Brückenbau nebst Bildung eines Verstecks für den reiselustigen König gehört zu den typischen Bestandteilen der Endspielstrategie und ist mit dem später unter Abschnitt 3 zu behandelnden Manöver aufs innigste verknüpft. Der Brückenbau geschah übrigens u.a. auch in unserer Partie Nr. 10, wo Sf5 dem eigenen König das Versteck f3 schuf. (Siehe Diagramm 43 [Stellung nach dem 35. Zuge von Schwarz].)