Angriff oder Verteidigung
Zur Strategie des Schach- und Lebenskampfes
Nach landläufiger Auffassung stellen Angriff und Verteidigung zwei unüberbrückbare Pole dar: es sei spielerisch oder müßig, zwischen diesen zwei wesensfremden Kampfformen Berührungspunkte konstruieren zu wollen.
Und doch ist dem nicht so.
Wenn der Erfinder A. den Kapitalisten B. zur Finanzierung seines Projektes gewinnen will, so sucht er ihn zu „überreden“; er unternimmt also einen Vorstoß, einen Angriff. Zu gleicher Zeit muss er aber auch bereit sein, etwaige Bedenken zu zerstreuen, d. h. er muss auf Verteidigung bedacht sein. Und wenn das Zünglein hin- und herschwankt, so muss A. in der Lage sein, durch einen in letzter Minute hervorgeholten und von langer Hand vorbereiteten Einwand die Schlacht für sich zu entscheiden. Dieses Heranholen der Reserven bei lange gleichschwebendem Kampf ist in sich zwar ein Angriffsmanöver, wirkt aber in seiner weitausschauenden Zurückhaltung auch als Maßnahme der Selbstverteidigung.
Wenn der Kaufmann darauf bedacht ist, das Vertrauen seiner Kundschaft zu gewinnen, so hat er — kampftechnisch gesprochen — die Kräftigung der eigenen Basis im Auge. Eine solche Kräftigung der eigenen Basis steht aber in gewissem Sinne über Angriff oder Verteidigung, oder, wenn Sie wollen, sie enthält Elemente der Verteidigung und des Angriffs zugleich. Niemandem ist es wohl in dem Maße vergönnt gewesen, die innere Zusammengehörigkeit zwischen Angriff und Verteidigung erleben zu können, wie dem turniererprobten Schachspieler. Ich lasse hier einige Beispiele folgen, die auch für jeden Nicht-Schachspieler verständlich sind.
Bei einer Abart des Angriffs, wir wollen ihn den rücksichtslosen nennen, stürmt der Angreifer vor, schwächt aber zu gleicher Zeit die eigene Basis und ist dann nicht mehr in der Lage, den eventuell einsetzenden Gegenangriff abzuweisen. Diese Abart des Angriffs scheitert, weil eben die Idee der Verteidigung völlig fehlt. — Der von modernem Geist erfüllte Schachspieler greift anders an: die Angriffszüge sind bei ihm mit Verteidigungszügen bunt untermischt; immer wieder wird zwischendurch ein Zug gemacht, der die eigene Position kräftigt, ein Schlüsselpunkt wird gesichert und womöglich überdeckt, eventuell drohenden, gegnerischen Durchbrüchen wird auf prophylaktischem, vorsorglichem Wege ein Riegel vorgeschoben und dergleichen mehr. Der Schreiber dieser Zeilen denkt dabei auch an seine in Marienbad (1925) gegen Rubinstein gespielte, mit einem besonderen Preis ausgezeichnete Turnierpartie. Er machte einen Durchbruch, dem er aber unmittelbar darauf einen Verteidigungszug reinsten Wassers folgen ließ. Seiner besten, ja einzigen Gegenchance beraubt und nicht in der Lage, die ihm gewährte Kampfpause zur Reorganisation seiner — eine Folge des gegnerischen Durchbruchs — zerklüfteten Heeresmassen zu verwerten, musste Rubinstein sehr bald die Segel streichen.
Der Turnierspieler weiß also, dass der Angriff ohne Verteidigung ein Unding ist. Aber er weiß noch mehr, nämlich, dass die tote, ganz passive Verteidigung auf die Dauer auch aussichtslos ist!
Das Minimum der Forderung, die wir an eine gesunde Verteidigung glauben stellen zu müssen, besteht darin, dass diese einen „Tropfen Gift“ enthalte, also die Möglichkeit einer noch so fern liegenden Gegenattacke. Lässt der Gegner beispielsweise seine Heeresmasse (eine Bauernmehrheit) tankartig vormarschieren, so suchen wir mit Aufbietung aller Kraft diese Masse zu hemmen, den drohenden Vormarsch zu stoppen. Dies ist eine passive Verteidigung, könnte der verehrte Leser sagen! Nein, denn die solchermaßen gehemmte Masse kann zu einem Angriffsobjekt und schließlich dezimiert werden!
Raummangel verbietet uns ein detailliertes Eingehen, aber soviel ist bereits klar geworden:
Auf die von uns aufgeworfene Frage: „Angriff oder Verteidigung?“ glauben wir die zwar etwas überraschend wirkende, aber doch tiefbegründete Antwort geben zu sollen: „Angriff und Verteidigung“.
Quelle: Denken und Raten, 14.10.1928