6.8 Der Siegeszug der „bizarren“ und „häßlichen“ Züge

Partien 100 - 101

Dies waren die überaus liebenswürdigen Epitheta, die die pseudoklassischen Meister unseren Zügen zu geben wußten. Heute, da unsere Ideen auf der ganzen Linie gesiegt haben, erscheint es aber jedermann unverständlich, wie eine so natürliche, schöne und tiefe Spielweise wie beispielsweise die Hanham-Variante als häßlich empfunden werden konnte?! Nach den Zügen 1. e4 e5 2. Sf3 d6 3. d4 Sf6 4. Sc3 Sd7! gedenkt Schwarz mittels c6 einen weiteren Bauern ins Zentrum zu stellen, wodurch er immerhin eine gewisse Zentralüberlegenheit erhalten würde. Was hätte, damit verglichen, die zeitweilige Nichtentwicklung des Lc8 schon auf sich?! Aber die Pseudoklassiker kannten nur ein Ideal: das der freien unbehinderten Figurenentwicklung. — Doch wir wollen nicht „abrechnen“, die pseudoklassische, formalistische Richtung ist tot, wir können nicht auf einen Toten einschlagen. Wenn wir nun im nachfolgenden einige Werturteile aus jener Zeit registrieren, so geschieht solches also nicht etwa um der „Abrechnung“ willen, sondern nur aus Gründen sachlichen Interesses

I. 1. e4 e6 2. d4 d5 3. e5 „der entscheidende Fehler“. Damit sollte u. a. auch angedeutet werden, daß dieses „unmotivierte“ (weil ohne Angriff erfolgte [der Springer steht noch nicht auf f6) Vorgehen häßlich sei. In Wirklichkeit ist aber 3. e5, wie Verfasser volle zwanzig Jahre lang zu betonen hatte (man wollte es ihm ja nicht glauben), weder ein Fehler noch „häßlich“, sondern ein guter und vernünftiger Zug. Nach 3. ... c5 gibt es für Weiß nämlich nicht weniger als vier (sic!) gute Ausgleichsvarianten, und zwar 4. c3 4. de 4. Sf3 4. Dg4! Heute ist die Richtigkeit des Zuges 3. e5 allgemein anerkannt.

II. 1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lc4 Sf6 4. Sg5 „ein Stümperzug!“ Heute weiß es jedermann, daß der Zug 4. Sg5 einen logisch angezeigten Versuch darstellt, die verfrühte gegnerische Springerentwicklung (3. ... Sf6?) zu strafen.

III. 1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 Sf6 4. 0—0 Se4: 5. d4 Le7 6. De2 Sd6 7. Lc6: bc!! 8. de Sb7! Ein herrlicher strategischer Rückzug! Nein, kein Rückzug, ein Rückzugsgefecht! Im Rückzuge begriffen, schlägt er dem Gegner doch zwei blutende Wunden: er beraubt ihn seines Läufers, er verschafft der eigenen Partei ein kompaktes, dynamisch wertvolles Bauernzentrum. Fürwahr ein entzückendes Spiel! Anders urteilte die pseudoklassische Richtung, sie sah weder die Dynamik des Rückzuges noch dessen gedankliche Schönheit, für sie war und blieb das Ganze nur ein erbärmlicher . . . „Rösselsprung“!

Wir bringen zwei Partien. In der Nr. 101 finden wir den „Lb5 in einer geschlossenen Partie“, welche Aufstellung nach Tarrasch „für einen Meister weniger verzeihlich sei als das Einstehenlassen einer Figur“. In Wirklichkeit scheint aber „Lb5“ sehr gut zu sein und kann wohl in 70 Prozent aller geschlossenen Partien ohne Nachteil, wahrscheinlich aber mit Vorteil gespielt werden. Die Nr. 100 bringt den Auftakt (g2—g3) zu einer Fianchettierung, die aber dann „unbegreiflicherweise“ ausbleibt. Auch in ihrem weiteren Verlauf wirkt die Partie teils „mysteriös“, teils disharmonisch. Und doch gehört sie in Wirklichkeit zu den logisch durchdachtesten Partien. Das ästhetische Empfinden im Schach muß eben im Gedanklichen verankert sein, das ist die Pointe. Wer nur nach äußerem Schein geht, kann leicht dazu kommen, Züge als häßlich zu empfinden, die es durchaus nicht sind. Schön im Schach ist eben letzten Endes, doch nur das Gedankliche.