4.5 Königlicher Frontalangriff gegen einen isolierten Bauern als königliches Ideal

Die Umgehung. Die Führerrolle. Das aus Frontalangriff, gegnerischem Ausweichen-müssen und schließlich erfolgender Umgehung dreiteilig zusammengesetzte Manöver. Das „Reserve-Blockadefeld“. Die abgeschaffte „Opposition“!

Viele schachergraute Heroen werden sich an den Kopf fassen: Wie, soll nun auch die Opposition abgeschafft werden!! Ja, es tut mir leid, Ihnen diesen Schmerz nicht ersparen zu können. Die Opposition ist, was Tiefe der Auffassung anbelangt, dem „arithmetisch“ aufgefaßten Zentrum durchaus geistesverwandt. In beiden Fällen wird die innere Sachlage nach rein äußeren Merkmalen beurteilt! (Zur Orientierung: Das Zentrum arithmetisch auffassen heißt die daselbst stehenden Bauern abzählen, das Mehr gewähre das Übergewicht. Eine gänzlich unhaltbare Auffassung, in Wirklichkeit kann nur der kleinere oder größere Grad von Beweglichkeit für die Beurteilung der Zentralsituation entscheidend sein.) Im nachfolgenden gebe ich Ihnen meine ganz neue Theorie, die unter Ausschaltung der Opposition den inneren Sinn der Geschehnisse analysiert. Die auf solcher Basis aufgestellten Grundsätze dürften dem Lernenden willkommen sein.

Im Diagramm 57 (rechts) wäre das Bilden eines Freibauern durch h3, f3, g4 ungenügend, weil der weiße König hinter seinen Freibauern zurückbliebe.

Diagramm 57

Rechts: Weiß erobert einen der feindlichen Bauern.
Links: Weiß, selbst von Umgehung bedroht, umgeht den Gegner u. gewinnt das Kampfobjekt c6. Wie?

Der König soll nämlich eine „führende“ Rolle spielen, also etwa dem Schrittmacher in einem Radrennen gleichen, nicht aber hübsch zu Hause bleiben und – Kriegsberichte lesen. Der Lernende muß sich übrigens über einen Punkt völlig im klaren sein: der König im Mittelspiel und der im Endspiel sind zwei von einander grundverschiedene Wesen. Im Mittelspiel ist der König ängstlich, verschanzt sich in seiner Burg (Rochadestellung) und ist in hohem Maße trostbedürftig (wenn er sich im Kontakt mit seinen Türmen weiß, wenn die eigenen Springer und Läufer ihn liebevoll umschwärmen, dann, erst dann fühlt sich der alte König einigermaßen wohl). Im Endspiel dagegen wird der König zum „Helden“ (was nicht allzu schwer fällt, da das Brett von Feinden fast völlig gesäubert erscheint). Kaum hat das Endspiel begonnen, und schon verläßt er die Rochade und schreitet mit langsamen, aber eindrucksvollen Schritten dem Zentrum zu (offenbar, weil er in der „Mitte der Geschehnisse“ zu sein beabsichtigt. Darüber mehr im VI. Kapitel). Ganz besonders mutig erweist er sich aber im Kampfe gegen einen – isolierten Bauern. Dieser Kampf wird eingeleitet durch einen Frontalangriff, also etwa Weiß Kf4, Schwarz Bf5. Die Frontalstellung schwebt dem König als Ideal vor, ist in der Tat auch sehr erstrebenswert, denn sie kann (bei noch vorhandenem Material) ausgebaut werden und so den belagerten Bauern erobern helfen, oder aber (in reinem Bauernendspiel) zu einer schließlichen Umgehung führen.

Also, bei noch vorhandenen Streitkräften wird der durch den König blockierte Bf5 mehrfachen Angriffen ausgesetzt, was zu unbequemer Verteidigungsstellung der deckenden Offiziere führen dürfte; beim bloßen Königsduell (keine Offiziere mehr am Brett) kommt der Zugzwang dem Angreifer zustatten. Beispiel: Diagrammstellung 57 rechts mit weißem Lf1 und schwarzem Lf7.

Der Frontalangriff hat sich also zu einem Umgehungsangriff entwickelt, ein Fortschritt, denn Umgehung ist ja, wie wir wissen, die stärkste Form des Angriffs. (In aufsteigender Linie genannt: Frontal-, Seiten- und Umgehungsangriff.)

Daß die Umgehung im Endspiel sehr stark sei, davon überzeugen uns die Beispiele 57 links und 58 rechts.

Diagramm 58

Rechts: Weiß „umgeht“ den Gegner.
Links: Weiß erobert Punkt b5 als Standplatz für den eigenen König.

Im zweiten geschieht

Im Diagramm 57 geschieht

Oder schließlich die Stellung: Weiß Kh5, Ba4, a5, f5; Schwarz Kd5, Bb7, f6.

Nachdem wir also die Bedeutung der Umgehung erkannt haben (wirkt aber nur bei unbeweglichem Kampfobjekt, welches seinerseits den eigenen König einengen soll!), erscheint es uns begreiflich, daß wir uns in jenem dreiteilig zusammengesetzten Manöver so sehr um die zu erreichende Umgehung bemühen konnten.

Wir übertragen nun das dreiteilige Manöver auf eine Stellung ohne gegnerische Bauern (siehe Diagramm 58 links).

Noch leichter ist die Anwendung gezeigter Denkmethode für den Verteidiger. In der Stellung: Weiß Kc4, Bb4; Schwarz Kc6 muß Schwarz remis machen können, weil der weiße König zurückgeblieben ist. Alles was Schwarz hierbei zu tun hätte, wäre aufzupassen, daß der weiße König nicht die Führerrolle übernehme und zweitens zu beherzigen, daß nächst dem Blockadefelde das Reserveblockadefeld am sichersten sei. (Bei einem weißen Freibauern auf b4 ist b5 unser Blockadefeld. Das Reserveblockadefeld liegt auf b6, also gleich hinter dem Blockadefeld.)

Um Mißverständnissen vorzubeugen, müssen wir ausdrücklich betonen, daß Punkt b8 nur bei Stellung des weißen Bauern auf b6 zum Reservefeld avanciert und ebenso Punkt b7 bei weißem Bauer b5 etc. In der Stellung: Weiß Kc5, Bb5; Schwarz Kb7 wäre 1. ... Kb8? entsetzlich, weil dies dem feindlichen König das ganze Terrain überlassen würde und ihm so die Gelegenheit gäbe, die Führerrolle zu ergreifen, also 1. ... Kb8?? 2. Kb6 mit entscheidendem Frontalangriff gegen Punkt b7 (unser dreiteiliges Manöver!).

Die Lehre von der Opposition ist in ihrer Unklarheit als reinste Verdunkelungslehre anzusprechen. So klar ist die Wahrheit: der angreifende König kämpft um die Führerrolle, der gegnerische wirkt dem entgegen unter Mitwirkung des „Reserve-Blockadepunktes“.