1. Die allgemeine Lage der Dinge vor 1911

Die ersten Vorboten: ich laufe Sturm gegen die arithmetische Auffassung des Zentrums (gelegentlich der Glossierung einiger Partien in der Wiener und Deutschen Schachzeitung). Mein Artikel: „Entspricht Dr. Tarraschs Moderne Schachpartie usw.“

Um es gleich zu sagen: im Rahmen eines Lehrbuches ist es mir, zumal ich nur über geringen Raum verfüge, nicht möglich, eine gründliche oder gar tiefsinnige Untersuchung über das gewählte Thema zu schreiben. Ich begnüge mich daher damit, die umwälzenden Artikel aus jener Zeit zu nennen bzw. zu bringen. Das Gleiche geschieht in Bezug auf die in obigem Sinne bedeutsamen Partien. - Wir haben also den sehr geehrten Leser vorbereitet und dürfen uns nun, in dem beruhigenden Bewußtsein, dieses getan zu haben, den vergilbten Pergamenten widmen.

Zunächst allerdings noch eine Feststellung, auf die ich ganz kolossalen Wert lege: polemisieren zu wollen liegt nicht in meiner Absicht. Alles was nach Polemik schmeckt, mußte daher aus den Pergamentenentfernt werden. Und wenn an dem oder jenem alten Papierstreifen noch ein Polemik-Stäubchen haften geblieben sein sollte, so geschah es gegen meinen Willen oder weil ich dieses Stäubchen nicht zu entfernen in der Lage war, ohne daß die historische Wahrheit darunter gelitten hätte.

Der erste Vorstoß gegen jene Zentrumslehre, die nur von den Bauern alles Heil erwartete, ward von mir im Jahre 1911 in den Partien gegen Salwe und Löwenfisch (Karlsbad) geführt. Noch mehr aber in den nachfolgend publizierten Partieglossen.

Ferner fing ich an, an der Allgewalt des vormarschierenden gegnerischen Zentrums gelinde zu zweifeln, ich erfand nämlich die Spielweise 1. e2-e4 c7-c5 2. Sg1-f3 Sg8-f6 . Stammpartie: Spielmann-Nimzowitsch, San Sebastian 1911.

Desgleichen war ich derjenige, welcher die Bedeutung des Manövers so recht zu würdigen verstand, das heute in so hohem Maße Allgemeingut geworden ist: das Spiel gegen einen Komplex von schwachen Punkten bestimmter Farbe. Man vergleiche meine Eröffnung gegen Tarrasch 1912: 1. e2-e4 c7-c6 2. d2-d4 d7-d5 3. e4-e5 Lc8-f5 4. Lf1-d3 Lf5×d3 5. Dd1×d3 e7-e6 6. Sg1-f3 Dd8-b6! nebst Da6. Dieser Abtausch bedeutet ein Spiel gegen die schwachen weißen Felder. Noch schärfer wußte ich diese Tendenz in meiner Partie mit Leonhardt (San Sebastian 1912) zu betonen.

Es hätte keinen Zweck, all den mir zuteil gewordenen Hohn und Spott registrieren oder bloß andeuten zu wollen; es genügt, wenn ich sage: niemand ist, so lange die Schachgeschichte besteht, in dieser Weise mißhandelt worden. Der Lohn, der mir für meine neuen Ideen ward, bestand in Schmähungen und bestenfalls im systematisch geübten Totschweigen.

Im Jahre 1913 kam dann die Revolution. Kam in Form des in hohem Grade revolutionierenden Artikels, den wir nachstehend bringen.

Ich betone nochmals, daß mir jede polemische Tendenz fernliegt, ich habe den Artikel gesäubert, ihm jede polemische Schärfe genommen. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich, wenn ich in jenem Artikel Tarrasch sage, weniger ihn persönlich als vielmehr die ganze von ihm vertretene Schule meine.

Auch ließ ich die fettgedruckten Ausrufe, die den Rand zierten und wie Fanfarenbläser wirkten, weg. Denn die Revolution ist längst verjährt, wir brauchen keine Fanfaren mehr, nur stilles geruhsames Ausbauen.

Und nun den Artikel.

Entspricht Dr. Tarraschs „Die moderne Schachpartie" wirklich moderner Auffassung?

Neue Gedanken über modernes und unmodernes Schach

Von A. Nimzowitsch

(Erschienen im Jahre 1913 in der Wiener Schachzeitung, Heft 5-8)

Die von Dr. Tarrasch unter obigem Titel herausgegebene Partiensammlung stellt eigentlich ein kritisches Lehrbuch der Eröffnungen in eigenartiger Form dar.

Das ganze, übrigens sehr glücklich gewählte Schema, nach dem Dr. Tarrasch hier arbeitet, besteht darin, daß er die (von ihm selbst glossierten) Partien nach Eröffnungen gruppiert und zwar in der Weise, daß er uns zunächst die unzulänglichen Spielweisen vorführt, später zu den besseren übergeht, um uns schließlich mit der „einzig richtigen“ Spielweise angenehm zu überraschen.

Ich wünsche dem Buch von Herzen eine weite Verbreitung: Es steckt System darin und Klarheit.

Trotzdem will es mir scheinen, als ob Tarraschs Auffassung sich keineswegs völlig mit der neueren, wirklich modernen decke.

Dr. Tarrasch ist und bleibt für uns alle vor allem der Verfasser der „300 Schachpartien“. Er war es, der in diesem Buche dem Bedürfnis des Publikums nach gesetzmäßigen, streng logischen Erkenntnissen als Erster Rechnung trug. Alles, was auf dem Gebiete der Glossierung vor ihm geboten ward, war entweder ein Variantengefüge, also zu flach oder zu tief (Steinitz!!), denn auch letzteres ist ein Fehler.

Steinitz hatte wohl überhaupt den einzigen Fehler, daß er seiner Generation um mindestens 50 Jahre voraus war! So konnte es kommen, daß er als barock verschrien werden durfte und es ist nicht uninteressant, daß gerade Dr. Tarrasch sein Popularisator, der Urheber dieser gänzlich unmotivierten, aber auch heute noch allgemein verbreiteten Anschauung war.

Aber um zu den „300 Schachpartien“ zurückzukehren, trotzdem Dr. Tarrasch hierin nur wenig eigenes bot, denn die Ideen waren von Steinitz, so möchte ich das Werk doch als teilweise klassisch bezeichnen! Und ich glaube mit Recht! Es steckt eine solche Gradlinigkeit in der Auffassung und die einzelnen Ur-Elemente des Spiels, wie: die offene Linie oder das Zentrum werden in so idealer Loslösung von anderen Motiven vorgeführt, daß obige Bezeichnung vollauf gerechtfertigt erscheinen muß!

Schulbeispiele zur Ausnützung der offenen c-Linie (oder wenn man will einer offenen Turmlinie schlechtweg! [Partie gegen v. Scheve]) oder zur Unterminierung eines unmotiviert und ohne genügende Bauerndeckung vorgegangenen Bauernzentrums (e4 und d5; Partie mit Metger) oder zur Ausnützung der zwei Läufer, nebst charakteristischem Vorgehen der Bauern zur Einengung der feindlichen Springer (gegen Richter) finden wir in diesem ausgezeichneten Buche in Hülle und Fülle.

Ganz besonders aber auch warnende Beispiele einer nach Dr. Tarrasch stets unbedingt verwerflichen „Aufgabe“ des Zentrums.

Hierin, wie übrigens auch in anderen Dingen, ist er von einer unerbittlichen Gradlinigkeit, ich sage nicht Konsequenz, denn das wäre nicht das gleiche. (Gradlinigkeit: das ist Scheinkonsequenz; wenn man will: Konsequenz fürs Auge, statt für den forschenden Geist.)

Aber das Spiel ist jetzt unvergleichlich komplizierter, die Auffassung hat sich vertieft! Neue Ideen suchen sich Geltung zu verschaffen ... In vielen Dingen, ganz speziell auch bezüglich der „Aufgabe des Zentrums“ ist man heute lange nicht mehr so rigoros, ich möchte sagen, so orthodox, wie früher.

Aber Dr. Tarrasch steht den neuen Anschauungen kühl und fremd gegenüber, das zeigt sich wiederum voll und ganz in seinem neuen Buch: „Die moderne Schachpartie.“ Was weiß er uns nun z. B. über die französische Partie zu sagen? (Seite 359 bis 385.) Das ist bekanntlich die Partie, in der das Problem des Zentrums dominierend und alles andere in den Schatten stellend, hervortritt. Sei es nun, die, durch die Bauernkette e5, d4, c3, respektive f7, e6, d5, eventuell c4 gekennzeichnete, geschlossene Form, oder die durch das Schlagen d5xe4 bedingte Spielweise oder möge es sich schließlich um die durch das nivellierende e4xd5 e6xd5 entstehende Abtauschvariante handeln, immer steht das Problem des Zentrums im Vordergrund!

Besonders plastisch tritt das eben gekennzeichnete Problem in der Variante 3... d5xe4 hervor. Diese Spielweise wird seit nun mehr als 20 Jahren, allen „Puristen“ zum Trotz, welche da über die „Preisgebung des Zentrums“ zetern, mit Liebe und Fleiß kultiviert. Und zwar mit dem höchst positiven Erfolg, daß in b7-b6 (Rubinstein) eine Verbesserung entdeckt wurde, welche den Wert von 3. Sb1-c3 geradezu in Zweifel stellt und welche mich zur Neubelebung der Spielweise 3. e4-e5 bewog, mit der ich bekanntlich — wiederum allen Puristen zum Trotz — die größten Erfolge errang!

In seinem neuen Buch stellt sich Dr. Tarrasch an die Spitze der Puristen, indem er die ganze so tiefe Spielweise 3. ... d5xe4 geradezu ignoriert! Die einzige Partie, die er dazu bringt: 1. e2-e4 e7-e6 2. d2-d4 d7-d5 3. Sb1-c3 d5xe4? (das ? ist von Dr. Tarrasch) 4. Sc3xe4 Lc8-d7 (Nr. 187 [Richtig ist bekanntlich nur 4. ... Sb8-d7]) hat mit der durchaus modernen Spielweise d5xe4 nur den Zug gemein, aber nicht die Idee. Und der Umstand, daß er gerade diese Partie mit der farblosen Fortsetzung Ld7 aus der Fülle des sich darbietenden Materials (ich verweise nur auf die zahlreichen prächtigen Gewinnpartien Rubinsteins in dieser Variante) herausgreift, spricht deutlich genug! Mit dem Verschwindenlassen eines Bauers aus dem Zentrum (d5xe4) ist das Zentrum noch lange nicht aufgegeben!

Diagramm I

Der Begriff des Zentrums ist ein viel weiterer! Man lese meine Ausführungen in der „Deutschen Schachzeitung“ 1912 (Niemzowitsch-Salve).

Freilich sind gerade die Bauern zur Zentrumsbildung am geeignetsten, weil am stabilsten, aber im Zentrum platzierte Figuren können sehr wohl die Bauern ersetzen. Und auch ein auf das feindliche Zentrum ausgeübter Druck, ausgehend von hinwirkenden Türmen, respektive Läufern, kann von entsprechender Bedeutung sein!

Das ist die wirklich moderne, besonders von mir vertretene Anschauung!

Dr. Tarrasch aber versieht d5xe4 mit einem Fragezeichen: „Aufgabe des Zentrums!“ Und doch hat hier Schwarz zweifellos mit seiner d-Linie und Läuferdiagonale b7-h1 festeren Fuß im Zentrum (d5!) als sein Gegner! Trotz der „Preisgebung des Zentrums“.

Ich kann die, namentlich für Anfänger im Positionsspiel höchst bildende Bedeutung dieser Tarraschschen Gradlinigkeit nicht verkennen! Für Vorgeschrittene, selbständig Strebende ist und bleibt letztere jedoch ein Hemmschuh.

Soviel über die Variante 3. ... d5xe4.

Wenden wir uns nun der Variante 3. e4-e5 zu. Dieser von mir neu eingeführte Zug (Resultat +9 -0 =1) mißfällt Dr. Tarrasch. Er bringt die Partie gegen Leonhardt und schreibt „Weiß macht aus der Partie ein Gambit mit allen Chancen und Gegenchancen eines solchen. Korrekter ist c2-c3. Aber Herr Niemzowitsch (ich bitte das höfliche Herr zu beachten. A. N.) spielt überhaupt nicht korrekt und strebt vielleicht nicht einmal nach Korrektheit. Jedenfalls ist er eine höchst eigenartige Individualität im Schach, die sich allerdings niemand zum Vorbild nehmen darf“ (Seite 383, Partie Niemzowitsch-Leonhardt, Zug 5).

Sehr bemerkenswert ist nun folgendes: Fast wörtlich dasselbe schrieb Dr. Tarrasch vor Jahren auch über Marshall gelegentlich seiner damaligen Neuerung e2-e4 in der c7-c5-Variante des Damengambits (Lokalanzeiger). Ob was vom Vorbild erwähnt war,ist mir nicht mehr genau erinnerlich, aber „nicht korrekt“ und „nach Korrektheit nicht strebend“ „aber eigenartig“ alles dies stimmte auffallend überein.

Wie ist es nun, frage ich, mit seiner Kunst zu charakterisieren bestellt, wenn er uns zwei, die wir — Marshall und ich — wie Leonhardt hervorhebt, geradezu Gegensätze im Schach darstellen mit denselben Worten zu kennzeichnen sucht?

Die philosophische Begründung, die ich der Spielweise 3. e4-e5 zugrunde gelegt habe und die mich berechtigt, den Zug 3. e4-e5 als mein geistiges Eigentum in Anspruch zu nehmen, ist folgende:

Diagramm II

Mit dem Zuge e4-e5 überträgt Weiß seinen Angriff vom Punkt d5 auf den Punkt e6, den er mit dem Zuge e4-e5 unbeweglich macht gemäß dem Gesetze: „Ein Angriffsobjekt muß zuerst festgelegt werden.“ Es entsteht eine Bauernkette, die gegenseitig behindernd wirkt. Das natürliche Bestreben ist nun die Zerstörung der einengenden Bauernkette; diese Angriffe müssen gegen den „Fuß der Kette“ gerichtet werden, von Schwarz gegen d4, von Weiß gegen e6, das ist die Parole! (c7-c5, respektive f2-f4-f5.) Übrigens kann auch Schwarz den Angriff von d4 auf c3 übertragen (c5-c4 = fixieren des Bauers c3, nebst b7-b5-b4 etc.), einem von mir herrührenden Gesetz gemäß: „Der Angriff auf eine Bauernkette kann von einem Kettenglied auf das andere übertragen werden.“

Wann ist aber der richtige Moment zu dieser „Übertragung“ des Angriffes gegeben?
Das zu beurteilen ist außerordentlich schwierig, meistens sind aber in der Stellung gewisse Hinweise enthalten.

Der Zug e4-e5 muß schon im 3. Zuge geschehen, denn die Tendenz, die Übertragung bis zu einem Moment aufzuschieben, wo e4-e5 mit Tempogewinn, d. h. mit Angriff auf Springer f6 geschehen kann, ist grundfalsch. Und zwar aus folgendem Grunde:

Symptomatisch für die Einengung des Schwarzen auf dem Königsflügel ist die Unzugänglichkeit von f6 für den Springer. Läßt ihm aber Weiß auch nur für einen Moment dahin, so läßt er ihn die Segnungen des Punktes f6 genießen, d. h. er gestattet ihm, über f6 dermaßen günstig ins Spiel einzugreifen, daß hernach der größte Teil der Einengung illusorisch erscheinen muß!

Ich bin gewiß kein „Gambitspieler“, aber die absolut durchgeführte Einengungspolitik (d. h. e4-e5 im 3. Zuge) verträgt einen Bauernverlust!

Von diesem, völlig neuen Gesichtspunkte müssen meine Bauernopfer mit Spielmann und Leonhardt (San Sebastian 1912) betrachtet werden.

Wie weit nun Herr Dr. Tarrasch von diesem neuartigen und gewiß modernen Gesichtspunkt entfernt ist, lehrt seine oben zitierte Bemerkung, wonach er mich, wie es scheint, zum Gambitspieler stempeln möchte!

Zum Überfluß ist 3. Sb1-c3, wie bereits ausgeführt, auch wegen 3. ... d5xe4! mangelhaft.

Und nun zur usuellen Variante 3. Sc3 Sf6 4. Lg5 Le7 5. e5 Sd7 6. LxL DxL.

Hier bringt Dr. Tarrasch das Kunststück zustande, Alapins Namen nicht ein einziges Mal zu erwähnen!! Das ist stark, wenn man bedenkt, daß Alapin in dieser Variante von einzigartiger, genialer Produktivität war!

Die wundervollen Ergebnisse Alapins — ich verweise nur auf die Variante f7-f6 (7. Sb5 Sb6 8. c3 a6 9. Sa3 f7-f6) oder auch auf das strategisch hervorragende Manöver Sb8-c6-d8-f7 nach vorhergehender Blockierung des Bauers f4 durch f7-f5, nebst nachfolgendem g7-g5 — bilden zweifelsohne den Grundstein zu weiteren Forschungen und wer sie mit Stillschweigen übergeht, hat sich und seiner Objektivität ein schlimmes Zeugnis ausgestellt.

Eine ähnliche liebevolle Behandlung seitens Dr. Tarrasch , erfährt auch die geistreiche Svenoniussche Idee in der Normalvariante: 1. e2-e4 e7-e6 2. d2-d4 d7-d5 3.Sb1-c3 Sg8-f6 4. ed ed und nun Lc1-g5 Ld3 und Se2, welche sehr stark zu sein scheint. Dr. Tarrasch erwähnt ihrer mit keinem Wort.

Von allen seinen Ausführungen über die französische Partie können wir höchstens nur die bei der Glossierung der Partien Tarrasch-Teichmann und Tarrasch-Lowtzky von ihn ausgesprochenen Ansichten als theoretisch wertvoll betrachten. Es handelt sich hierbei um eine von Rubinstein angegebene, rein positionelle Behandlung der üblichen Variante 4. Lg5, welche unter Verzicht auf die aggressive Läuferstellung auf d3 das Zentrum „aufgibt“, um es durch Figuren (Se5 etc.) aufs wirksamste zu belagern — Prinzipien, die uns sehr sympathisch sind und die ich lange vorher in meinen Partien mit Salve und Löwenfisch in Karlsbad 1911 siegreich durchgeführt habe, und zwar in der Variante 3. e4-e5.

Selbstredend können wir in diesen knappen aphoristischen Bemerkungen von Dr. Tarrasch über die richtige Strategie in der Französischen keinen Ersatz sehen für die fehlenden oder ungenau skizzierten höchst wichtigen Varianten I. 3... dxe!. II. 3. e4-e5!, III. Sc6: Alapin, IV. Svenonius.

Wenden wir uns nunmehr der Spanischen zu (3 - 113). Wiederum dasselbe Bild! Dieselbe maßlose Überschätzung der Bedeutung des Zentrums (will sagen, seiner Besetzung durch Bauern) und in Verbindung damit, der panische Schrecken vor einer eventuellen Preisgebung desselben.

Daß die Anschauungsweise auf einer unvollständigen und mißverständlichen Auffassung des Begriffes „Zentrum“ beruhe, haben wir bereits im vorigen Abschnitt erörtert.

Eine direkte Folge dieser Anschauungsweise ist auch die Tarraschsche Verdammung der beengten Verteidigung. Denn da letztere ja leicht zu einer Aufgabe des Zentrums führen könne, so ist sie schon damit allein für Tarrasch gerichtet.

Den Reigen der „unzulänglichen“ Verteidigungen im Spanier eröffnet diesmal die Steinitzsche Spielweise d7-d6(?) (das Fragezeichen rührt von Dr. Tarrasch her) mit oder ohne a7-a6.

Nach den Zügen 1. e2-e4 e7-e5 2. Sg1-f3 Sb8-c6 3. Lf1-b5 a7-a6 4. Lb5-a4 Sg8-f6 5. 0-0 Lf8-e7 6. Tf1-e1 d7-d6 7. La4xc6+ b7xc6 8. d2-d4 e5xd4 9. Sf3xd4 Lc8-d7 (siehe Diagr. III) gibt Dr. Tarrasch dem weißen Spiel den Vorzug, und zwar wegen des „freieren Spiels“ „das zu allen möglichen Angriffen ausgenützt werden könnte“ (Seite 14, Partie 18, Zug 8).

Diagramm III

Würde nun Dr. Tarrasch nicht nach äußeren, nichtssagenden Merkmalen, wie „freies Spiel“ auf den inneren Wert der Stellung schließen wollen, welcher in Wirklichkeit nur durch die charakteristische Lage im Zentrum bedingt ist, so würde er nie und nimmer der weißen Stellung den Vorzug geben.

Untersuchen wir vorliegende Position auf ihren inneren Wert hin.

Zunächst notieren wir: W. e4 f, Schw. de c6 c7 f, welche Formel den Kern dieser Position darstellt. Diese Formel zeigt uns auch die unverkennbare Tendenz seitens Schwarz, mittels f5 oder d5 das Zentrum e4 zu untergraben; des weiteren erkennen wir als natürliche Operationsbasis, die e-Linie für Schwarz und die d-Linie für Weiß. Schwarz wird sich auf e5 — das ist nämlich die durch den Bauer d6 geschaffene Basis zu weiteren Operationen auf der e-Linie — festsetzen! Dem analogen Bestreben des Weißen, seinerseits in ähnlicher Weise, nämlich durch Besetzung des durch den Bauer e4 geschaffenen Stützpunktes d5, die d-Linie auszunützen, stellt sich der schwarze Bauer auf c6 hindernd entgegen.

Wir erkennen daraus, daß Schwarz auf der e-Linie größere Wirkung ausüben wird als Weiß auf der d-Linie, d. h. Schwarz hat einen größeren Druck auf das weiße Zentrum als umgekehrt.

Außerdem und nur nebenbei bemerkt, stellt die kompakte Masse d6, c6, c7 auch eine nach dem feindlichen Damenflügel hin entwicklungsfähige Macht dar (z. B. c5 und a5 gegen Bauer b3).

Von einem Vorteil für Weiß kann demnach in gegebener Stellung nicht die Rede sein, was ja auch der Verlauf der Matchpartien Lasker-Janowski und Lasker-Schlechter überzeugend dartut.

Jedenfalls ist es klar, daß es den modernen Anforderungen nicht entspricht, diese schwierige Stellung mit einem Schlagwort wie „freieres Spiel“ erledigen zu wollen!

Was wir heutzutage anstreben, ist eine aus dem Kern der Stellung ausgehende tiefe Analyse! Mit Schlagwörtern „freies, bequemes Spiel etc. etc.“ ist uns dagegen nicht mehr gedient!

Wir können nicht umhin, nachstehend noch ein anderes recht markantes Beispiel anzuführen:

Diagramm IV

Nach den Zügen 1. e2-e4 e7-e5 2. Sg1-f3 Sb8-c6 3. Lf1-b5 a7-a6 4. Lb5-a4 Sg8-f6 5. 0-0 Lf8-e7 6. Tf1-e1 d7-d6 7. c2-c3 Lc8-g4 8. d2-d4 Sf6-d7 9. d4-d5 (siehe Diagr. IV) (Lasker-Janowsky, Seite 53) macht Dr. Tarrasch folgende, für seine Anschauungsweise außerordentlich charakteristische Bemerkung:

„Dieser Zug (d4-d5) ist fast immer schlecht, wenn Schwarz später mit f7-f5 einen Gegenangriff einleiten kann.“ Das ist grundfalsch. Der Zug f7-f5 kann nur als natürliche Reaktion auf den Vorstoß d5 angesehen werden und ist als solcher keineswegs zu fürchten. Eine kleine, dem Wesen der Position Rechnung tragende Analyse wird uns sofort davon überzeugen!

Mit dem Zuge d4-d5 überträgt Weiß (ganz analog dem Zuge e4-e5 in der französischen Partie) den Angriff von e5 auf d6, den er mit c3-c4-c5 einleiten will, dagegen ist er bereit dem Gegner die Möglichkeit eines Angriffs auf seine Kette durch f7-f5 zu gestatten (entsprechend c7-c5 im Franzosen).

Nichts spricht dafür, daß Weiß durch diesen Angriff in Nachteil geraten müsse, auch nicht die Praxis, nach der sich Dr. Tarrasch, obgleich „Theoretiker“, ausschließlich zu richten scheint!

Die Folge des Vorstoßes d4-d5 in obiger Partie war nachstehende Position. (Siehe Diagr. V.)

Diagramm V

Man sieht, die Position hat sich bereits sehr entwickelt: Weiß steht bereit mit c5 vorzugehen, während Schwarz auf der f-Linie zu operieren gedenkt. Die Öffnung derselben war aber auch das einzige, was mit f7-f5 erreicht worden ist. Das Zentrum von Weiß — das ist das wesentlichste — hat nicht die geringste Einbuße erlitten. Weiß hat das Zentrum zwar „aufgeben“ müssen, aber der Springer e4, sekundirt vom anderen Springer, ersetzt den Bauer e4 vollkommen und wirkt dominirend nach allen Richtungen!

Daß Lasker die Partie noch verlor, hat mit dem Wert des Vorstoßes d4-d5 nichts zu schaffen.

Maróczys Stratagem.

A propos d4-d5, hier vermissen wir eine von den vielen ausgezeichneten Partien Maróczys, in denen er folgendes feine Stratagem durchgeführt hat: Auf den „fürchterlichen“ Vorstoß f5 schlug er einfach den Keckling, und zwar noch dazu in einem Moment, da jener durch seinen Kollegen g6 wirksam unterstützt war! Es entstanden die Bauern e5 und f5, gewiß gar prächtig anzuschauen! ...

Aber sie „hingen“ ein wenig und das genügte Maróczy, sie systematisch zu belagern und zu vernichten!
Aber diese tiefe und unauffällige Spielanlage ist dem gradlinigen Doktor unsympathisch. Er bringt auch in der Tat nur wenige Partien des ungarischen Großmeisters.

Die „beste“ Verteidigung Sxe4.

Es erübrigt noch, einiges über die „beste Verteidigung“ 3. ... a6 4. La4 Sf6 5. 0-0 Sxe4(!) (das (!) rührt von Dr. Tarrasch her) zu sagen. Die Schlechtersche Neuerung Sc6xd4 (nach Se4: 6. d4 b5 7. Lb3 d5 8. a4? Sc6xd4) hat in der Tat den Wert von a2-a4 in Frage gestellt, aber damit ist die Stärke der Spielweise für Weiß noch lange nicht dahin! Sie beruht ja auch gar nicht auf dem Besitz der a-Reihe, welche nur eine „Freiheit“ mehr darstellt, sondern ist vielmehr nach 8. d4xe5 Lc8—e6 in der Lage des Bauers auf e5 und der Möglichkeit durch Sd4 unangenehm zu werden (z. B. 9. Sd4 Sc6xd4 10. cxd) begründet, da der Bauer c7 rückständig ist. Übrigens hat auch schon Herr Malkin in der „Schachwelt“ darauf hingewiesen und mit ausführlichen Analysen bekräftigt, wie sehr Dr. Tarrasch die Spielweise Sxe4 überschätze.

Das Vierspringerspiel.

In der Bearbeitung des Vierspringerspiels, zu welchem wir nun übergehen wollen, vermissen wir die Rubinsteinsche Spielweise 4. ... Lf8-c5 5. Sf3xe5 Sc6-d4 (Tarrasch-Rubinstein, San Sebastian 1912), sodann die zur Rehabilitierung der Variante Sc6-e7 wahrscheinlich genügende, von Spielmann zuerst gegen Tarrasch in Hamburg mit Erfolg angewandte Spielweise. Des weiteren fällt die geringe Beachtung auf, die Dr. Tarrasch der von mir mit neuen Varianten und neuer Begründung herausgebrachten Variante 6. Lxc6 erweist, obgleich sie sich bereits allgemeine Sympathien erworben hat (z. B. hat sie Capablanca von mir übernommen).

Damengambit.

Und nun zum Damengambit.

Hatten wir in Bezug auf Dr. Tarraschs Bearbeitung des Spaniers, der französischen und des Vierspringerspiels manches zu beanstanden, so müssen wir hier uneingeschränkt loben. Die Klassifizirung ist eine sehr übersichtliche, die Auffassung ist von der Dr. Tarrasch kennzeichnenden Schärfe und die getroffene Auswahl der Partien steht auf gleicher Höhe.

Nur eines ist uns unklar: warum beharrt Dr. Tarrasch darin, die Spielweise 1. d4 d5 2. c4 e6 3. Sc3 Sf6, die auch heute noch eine Fülle von neuen Möglichkeiten in sich birgt und die gerade jetzt im Begriffe ist, wieder modern zu werden, warum beharrt er darin, diese Spielweise als „orthodox“ zu bezeichnen?! Und warum bezeichnet er anderseits, die von ihm selbst herrührende, zu monotonen und öden Spielen führende Variante 3. ... c7-c5, welche heute, man kann getrost sagen, ad acta gelegt ist, warum erklärt er sie für „modern“?!

Die „moderne“? Verteidigung c5.

Ich frage mich, kann es jemand reizen, eine Variante zu wählen, in der man, wie es in der Variante c7-c5(?) der Fall ist, einen „Isolani“! erhält, welcher nach allen Regeln der Kunst „gestoppt“ ist — man denke an den Laufer auf b2 — wobei er vom anderen Laufer auf g2 bereits höchst peinlich fixirt wird, kann es, frage ich, jemand reizen, diese Variante zu wählen?

Das ist das allermindeste, was Weiß nach (1. d2-d4 d7-d5 2. c2-c4 e7-e6 3. Sb1-c3 c7-c5? 4. c4xd5 e6xd5 5. Sg1-f3 Sb8-c6 6. g2-g3 Lc8-e6 7. Lf1-g2 Lf8-e7 8. 0-0 Sg8-f6 und nun, wenn man will, sogar b2-b3) bei bescheidenen Ansprüchen bequem erreichen kann.

Diagramm VI

Kann es jemand verlockend erscheinen, diese Variante zu wählen, während in der nunmehr hochmodernen, von Dr. Tarrasch zu Unrecht als „orthodox“ bezeichneten Spielweise 3... Sf6 sich ihm zwanglos eine Partie darbietet, in der er sichere Entwicklung, festes Spiel und kräftige Initiative erreichen kann.

Ein Eingeständnis der Hilflosigkeit, der gegen 3. ... Sf6 gerichteten Argumente erblicke ich auch im folgenden: Nach 1. d2-d4 d7-d5 2. c2-c4 e7-e6 3. Sb1-c3 Sg8-f6! 4. Lc1-g5 Lf8-e7 5. e2-e3 Sb8-d7 6. Sg1-f3 0-0 entsteht eine Position, in der Weiß, sofern er in den Begriffen „freies Spiel“, „Tempogewinn“, „schnelle Entwicklung“ groß geworden ist, nicht mehr weiß, was tun: 7. Ld3 würde nach dxc ein Tempo kosten, 7. Tc1 wäre aus anderen Gründen nicht am Platz und Dc2 — die letzte Ausrede — gestattet das mit 7. ... c7-c5! (nun am Platz) 8. 0-0-0 Da5! von Teichmann in zahlreichen Partien erprobte sichere Verfahren!

Auch die ganz „alte“, aber keineswegs veraltete Spielweise mit b7-b6 hat ihre Meriten, man spiele nur die Partie Pillsbury-Schlechter nach (Hastings 1895).

Sehr modern ist heute auch eine „unregelmäßige“ Verteidigungsweise des Damengambits, ich erwähne nur die Holländische, die von Dr. Tarrasch sehr stiefmütterlich behandelt wird und die Hanham-Variante.

Letztere ist Herrn Dr. Tarrasch ein Dorn im Auge. Er kann es nicht mitansehen, wie das Motiv des freien Figurenspiels, auf das er schwört, dem Prinzip der richtigen Bauernkonfiguration untergeordnet wird.
Aber die Praxis von heute gibt ihm auch hierin Unrecht: in letzter Zeit hat diese tiefe wenn auch etwas gewagte Spielweise in Capablanca einen neuen Anhänger gewonnen. Nach der für „Hanham“ klassischen Musterpartie Teichmann-Niemzowitsch (San Sebastian 1911), die von allen Lehrbüchern aufgenommen wurde, haben wir übrigens in der „modernen Schachpartie“ vergeblich gesucht.

Zum Schluß noch einige Worte über „Caro-Kann“ und die Skandinavische 1. e2-e4 d7-d5.

Die erstere Eröffnung erklärt Dr. Tarrasch für „ganz gewiß inkorrekt'' da 1. ... c7-c6 nichts „für die Entwicklung leiste“ (Seite 425), also wiederum dasselbe, von Tarrasch beliebte unmoderne und völlig unbrauchbare Kriterium zur Beurteilung von Eröffnungen!

Im Zug 1. ... c7-c6 ist der ehrgeizige Plan enthalten e2-e4 als verfrüht nachzuweisen; zum mindesten ist das der tiefe Plan, den ich der Eröffnung zugrunde lege; ob übrigens auch die Erfinder die volle Tragweite des Zuges 1. ... c7-c6 erkannt hatten, darf dahin gestellt bleiben; sicher ist nur, daß diese Eröffnung eine Zukunft hat.

Man denke nur an meine, geradezu revolutionär anmutende Neuerung 1. e2-e4 c7-c6 2. d2-d4 d7-d5 3. e4-e5 Lc8—f5 4. Lf1-d3 Lf5xd3 5. Dd1xd3 e7-e6 6. Sg1-f3 Dd8-b6 7. 0-0 (siehe Diagr. VII) Db6-a6, d. h. Verzicht auf das seit Jahrzehnten fest eingebürgerte c7-c5, zwecks restloser Ausnützung der — eine Folge des Abtausches von Ld3 — schwach gewordenen „weißen“ Felder und man erkennt die Entwicklungsfähigkeit des „Caro-Kann“! Von alledem bei Dr. Tarrasch kein Wort!

Diagramm VII

Bringt Dr. Tarrasch zum „Caro-Kann“ nur drei Partien, so hält er es dagegen für angebracht zehn (!) Beispiele der „skandinavischen“ Eröffnung anzuführen. Eins hätte genügt, nämlich die Partie Rubinstein-Bernstein (San Sebastian 1911), in der Rubinstein, ein Laskersches Rezept befolgend, 1. ... d7-d5 völlig und für immer demoliert hat! Aber selbstredend fehlt gerade diese Partie und mit ihr die notdürftigste Orientierung, die der Leser mit Recht vom Verfasser erwarten dürfte.

Interessant ist ein Vergleich zwischen „Caro-Kann“ und der Skandinavischen, beide zielen gegen e4 hin, aber während die erste mit c7-c6 dem folgenden Vorstoß d5 erst die nötige Kraft verleiht, spielt die zweite, um kein „Entwicklungstempo“ (!) zu verlieren, sofort 1. ... d7-d5, mit dem Erfolg, daß Schwarz zwar ein freies, aber verlorenes Spiel erhält!

Wir haben nun an einer Reihe von verschiedenartigen Eröffnungen Dr. Tarraschs Auffassung und Ansichten kennen gelernt. Wir hatten Gelegenheit, seine „Gradlinigkeit“, welche sich zuweilen wie in den „300 Schachpartien“ zur Klassizität erhebt, zu bewundern, wir haben aber auch gesehen, wie sie ihn zu häufig untiefen, nach rein äußeren Merkmalen gehenden Urteilen veranlaßt.

Im Detail fanden wir seine engbegrenzte Auffassung der Zentrumsstrategie, als nicht den modernen Anschauungen entsprechend, desgleichen auch seine gewohnheitsmäßige Nichtbeachtung der die Position charakterisierenden, ja die Position erst schaffenden Bauernkonfiguration (speziell in der Mitte). Von diesem Gesichtspunkt aus mußten wir auch seine Schlagwörter wie „freies Spiel“, „beengte Verteidigung“ etc. als die naturgemäße Entwicklung der Schachphilosophie hemmend, zurückweisen. Ganz besonders mußten wir betonen, daß wir uns mit der Ansicht Dr. Tarraschs, das Zentrum sei „aufgegeben“, sobald die Vollzähligkeit der Bauern in der Mitte Einbuße erlitten hat, nie und nimmer befreunden können.

Von diesen Bemängelungen abgesehen, bietet das Buch eine Fülle des Trefflichen. Die Schachliteratur ist jedenfalls durch die „moderne Schachpartie“ um ein zwar zweifellos nicht modernes, aber doch sehr interessantes und empfehlenswertes Buch bereichert worden. Namentlich der Anfänger im Positionsspiel kann an seiner Gradlinigkeit erstarken und auch für den Kenner bietet das neue Werk des Dr. Tarrasch entschieden viele wertvolle und interessante Anregungen.