5. Ausbau und Entwicklung der Schachrevolution in den Jahren 1914 bis 1926
Das hier gestellte Thema würde für eine Monographie Stoff genug bieten, Raummangel zwingt uns aber zu einer ganz gewaltigen „weisen Mäßigung“. Wir registrieren nur die allerwichtigsten Vorkommnisse, behalten uns aber eine eingehende Würdigung für eine Broschüre vor.
Als glänzendste „nachrevolutionäre“ Tat ist Aljechins 1. e2-e4 Sg8-f6 zu bezeichnen. Gewiß ist die dieser Neuerung zugrundeliegende Idee nicht ganz neu, denn sie basiert ja im wesentlichen auf der von mir vermittels der Variante 1. e4 c5 2. Sf3 Sf6 propagierten Ungefährlichkeit der Bauernwalze. Aber überraschend wirkt der Aljechinsche Zug doch und das Prädikat glänzend will ich ihm keineswegs versagen.
Sehr interessant ist auch Rétis Versuch, das von mir entdeckte Stratagem des elastischen Zentrums zu verwerten.
Als bemerkenswert ist auch Grünfelds interessante Verteidigung anzusprechen.
Geistreich und originell, wenn auch nur ein Detail betreffend, ist Sämischs Zug 7. ... Sf6-e4
Dieses frühzeitige Eindringen des Springers wirkt so antipseudoklassisch als möglich, hat viele Nachahmer gefunden (in verschiedenen Stellungen) und sich als äußerst fruchtbringend erwiesen.
Ideologisch ist aber in den Jahren 1914 bis 1926 nichts Neues geschaffen worden, wenn wir von den in diesem Buche erörterten neuen Ideen, zum Beispiel der Überdeckung und Prophylaxe absehen wollen. Tartakowers interessanter Versuch, eine neue schachrevolutionäre Idee zu schaffen, muß als gescheitert betrachtet werden. Wir wollen die Sache, da sie von Belang ist, besprechen, wenn auch nur in aller Kürze. Siehe Diagramm 198. Den Verlauf des hier geschilderten Kampfes will Tartakower als Beweis dafür ansehen, daß der Hypermodernist, wenn er will, jede gegnerische Stärke als Schwäche behandeln kann (also nicht bloß typische Schwächen, wie rückständige Bauern usw.). Also: „Wo ein Wille, dort ein Weg, vulgo feindliche Schwäche“.
Es ist aber für jeden, der dies Buch gelesen hat, ersichtlich, daß der weiße König von Anfang an an einer Reflexschwäche gelitten hatte (d. h. die weißen Schutztruppen waren an die Schwächen c4 bzw. a2 gebunden und somit erschien der weiße Königsflügel nur mangelhaft gesichert). Und die Moralanwendung: Man kann nur Schwächen angreifen, es braucht natürlich keine traditionelle Schwäche zu sein, am Krückstock, aber eine Schwäche muß es sein, und sei es bloß eine Reflexschwäche. Wir Modernen sind an die Gesetze der Logik genau so gebunden, wie die Nichtmodernen, nur daß wir eben eine Verinnerlichung der toten Dogmen, eine Belebung derselben anstreben. Die Logik verlangt es aber, daß man die gegnerische Stellung von der schwachen Seite aus zu sprengen suche. Der Satz, daß man die gegnerische Stärke anzugreifen habe, ist ein moderner Irrtum, nichts weiter. Alles was der tiefer denkende Schachfreund zu tun hat, ist: den Begriff der „Schwäche“ zu erweitern; ein organisch völlig intakt zu nennender Bauer kann trotzdem schwach sein, zum Beispiel bei gewissen ungünstigen Terrainverhältnissen, oder im Falle einer Reflexschwäche, wie im Diagramm 198 und dergl.
Wir bemerken noch, daß es natürlich am lohnendsten erscheint, eine solche Schwäche anzugreifen, die irgendwie den strategischen Nerv der feindlichen Aufstellung bildet, zum Beispiel eine Kettenbasis.
Damit sind wir am Ende unserer Ausführungen angelangt. Wir geben noch, ehe wir vom Leser scheiden, eine Partie und verweisen im Übrigen auf eine wohl noch in diesem Jahre erscheinende Partiensammlung, die ich zur Erhärtung meiner System-Regeln herauszugeben gedenke.
Partie 41
In dieser Partie entfalten sieben weiße Bauern eine größere Gesamtbeweglichkeit, denn acht schwarze. Auf diese Weise triumphiert der Gedanke (die dynamische Wirkung) über die rohe Materie. - Das vornehmste Merkmal der vor sich gegangenen Schachrevolution erblickten wir, wie erinnerlich, in einer Verinnerlichung der toten Dogmen. In dieser Partie tritt nun besagte Verinnerlichung greifbar deutlich in die Erscheinung. Deshalb bringen wir sie auch, zu Nutz und Frommen unserer interessierten Leser.
Damit verabschieden wir uns von unseren freundlichen Lesern.