3a Der isolierte Damenbauer

(siehe Diagramm 162 und 162a)

Das Problem des isolierten Damenbauern gehört m. E. zu den Kardinalproblemen des ganzen Positionsspiels überhaupt. Es handelt sich hierbei um die Wertung eines statisch schwächlichen Bauern, der aber ungeachtet seiner Schwäche von dynamischer Kraft erfüllt ist. „Was überwiegt nun, die statische Schwäche oder die dynamische Kraft?“ So gestellt, gewinnt das Problem an Bedeutung, ja es wächst gewissermaßen über die enggezogene schachliche Grenze hinaus.

Diagramm 162

Der isolierte Damenbauer. Man beachte den Vorpostenpunkt e5 für Weiß und d5 für Schwarz.

Es ist für den Lernenden unerläßlich, selbst, also aus eigener Erfahrung heraus, zu dem eben angedeuteten Problem Stellung zu nehmen. Der Lernende versuche als Weißer, die sogenannte Normalstellung zu erreichen, also etwa

Dies ist eine vortreffliche Übung. Es wird dem Lernenden nämlich gut tun, am eigenen Leibe zu erfahren, wie gefährlich der feindliche Isolani im Mittelspiel werden kann und es wird gleichfalls seine Erkenntnis bereichern, zu sehen, wie schwierig es ist, den eigenen Isolani im Endspiel vor dem Untergang zu bewahren. Einige lehrreiche Gesichtspunkte, das Resultat meiner langjährigen Untersuchungen, mögen den Lernenden auf dem dornenvollen Wege begleiten, aber sparen können wir ihm diesen Weg nicht, denn nur schmerzvolle Erfahrung kann hier zu einer wirklichen Stellungnahme verhelfen: „Wer nie sein Brot mit Tränen aß ...“

1. Die dynamische Kraft des Bauern d4 (siehe Diagramm 162a)

Diagramm 162a

Schema zum isolierten Damenbauern.
1 bedeutet weißer Vorposten. 2 bedeutet schwarzer Vorposten.

ist in dessen Expansionslust (= der Tendenz d4-d5) begründet und ferner in dem Umstande, daß dieser Bauer die weißen Vorpostenpunkte e5 und c5 deckt, ja schafft. Dem gegenüber bildet der schwarze Vorpostenpunkt d5 - zumindest im Mittelspiel - keinen vollwertigen Ersatz, denn ganz abgesehen von dem arithmetischen Übergewicht (zwei Vorpostenpunkte gegen einen) kann Weiß noch darauf hinweisen, daß ein Springer auf e5 (siehe Diagramm 162) viel schärfer wirken müsse, als es dem Gegenspieler Sd5 jemals möglich sein wird. Denn es ist einleuchtend, daß ein durch zwei kräftige Läuferdiagonalen (d3-h7 und g5-f6) sekundierter Se5 den gegnerischen Königsflügel unter Druck setzt, und was wäre „schärfer“ als Königsattacke?! Die linear geführte Untersuchung ergibt also ein unzweifelhaftes Plus für den Anziehenden.

Andererseits tendiert unser Bauer aber wie bekannt zur „Endspielschwäche“. Wie wäre dieses nun zu verstehen; besteht die Schwierigkeit nur darin, daß d4 schlecht zu decken ist oder sind noch andere Kalamitäten vorhanden?

2. Der Isolani als Endspielschwäche.

Maßgebend für die Beurteilung des eben entworfenen Problems ist der Umstand, daß die Punkte e5 und d5 im Endspiel anders gewertet werden müssen als dies im Mittelspiel der Fall war; denn da Königsattacke nicht mehr in Betracht kommt, verliert Punkt e5 viel von seinem Glanze, dagegen gewinnt der schwarze Punkt d5 an Bedeutung. Und wenn Weiß nicht etwa bereits nach c7 eingedrungen ist, oder andere im Mittelspiel erworbene Trümpfe aufzuweisen hat, so ist seine Stellung als wenig beneidenswert anzusprechen. Weiß leidet nicht bloß unter der Schutzbedürftigkeit seines Isolani, sondern auch darunter, daß die „weißen“ Felder wie d5, c4, e4 schwach werden können. Man betrachte zum Beispiel Diagramm 162a mit hinzugedachtem weißen Kc4 und Ld2; schwarzer Kc6 und Se7. Schwarz vertreibt (durch ein Springerschach) den K von c4, spielt dann Kd5 und dringt mit seinem König weiter vor (über c4 oder e4). In allen einschlägigen Fällen ist d5 als schwarzer Schlüsselpunkt zu betrachten: von d5 aus wird blockiert, zentriert, „manövriert“. d5 fungiert als Einfallspforte (siehe obiges Beispiel) und auch als Knotenpunkt bei allen möglichen Truppenverschiebungen, zum Beispiel (nun denken wir uns die Diagrammstellung 162a von Türmen und Springern belebt) bei Td8-d5-a5 oder Sf6-d5-b4 und schließlich bei Sf6-d5-e7-f5×d4. Ein auf d5 postierter Springer wirkt nach beiden Flügeln hin imponierend; ein Läufer auf d5 entscheidet nicht selten trotz ungleichfarbiger Läufer das Spiel (zum Beispiel bei beiderseits vorhandenen Türmen). Natürlich können die schwarzen Trümpfe kompensiert bzw. überkompensiert erscheinen, zum Beispiel wie gesagt im Falle eines nach c7 eingedrungenen weißen Turmes; aber diese Fälle sind bloß als Ausnahmen von der Regel zu werten. Wir resümieren: die weiße Endspielschwäche ist in unserem Falle darin begründet, daß d4 bedroht erscheint, Punkt d5 außerordentlich stark ist und daß die „weißen“ Felder d5, c4, e4 zur Schwäche tendieren, während die Stärke des Anziehenden (Punkt e5) viel von seiner einstigen Bedeutung eingebüßt hat. Die weiße Bauernstellung war eben nicht kompakt; die von uns hervorgehobenen Übelstände, wie durchgehende Schwächung eines Felderkomplexes von bestimmter Farbe usw., pflegen einer wenig kompakten (zerrissenen) Bauernstellung mit Naturnotwendigkeit anzuhaften. Als Nutzanwendung können wir es dem Lernenden nicht genug anempfehlen, den Sinn für kompakte oder nicht kompakte Stellungen zu schärfen. Ferner ist zu beherzigen, daß nicht bloß der Isolani selbst, sondern auch der Felderkomplex rund herum zur Schwäche tendiert, darin ist das hauptsächliche Übel zu erblicken!

3. Der Isolani als Angriffsinstrument im Mittelspiel:

Solidität (im Aufbau), die aber bei der ersten Unterlassung des Gegners (zum Beispiel er hat seine Figuren vom Königsflügel entfernt) einem stürmischen Angriff Platz machen soll!

Viele Schachfreunde gehen im Falle Isolani allzu stürmisch vor, indes scheint mir zu einem va banque geführten Verzweiflungsangriffe keine objektive Veranlassung vorzuliegen. Zunächst ist vielmehr höchste Solidität am Platze. Der Angriff wird sich schon von selbst ergeben (beispielsweise wenn Schwarz etwa den Sf6 vom Königsflügel entfernt hat, was natürlich ist, denn der Springer will ja nach d5). Im Entwicklungsstadium (siehe Diagramm 162) empfehlen wir demnach die solide Aufstellung Le3 (nicht g5), De2, Tc1 und d1 (nicht Td1 und e1), ferner Ld3 bzw. b1 (nicht b3). Vor Überrumpelungsversuchen im frühesten Stadium, eingeleitet durch etwaiges Se5xf7 (bei einem Läufer auf a2) bzw. durch eine Turmdiversion (Te1-e3-h3) können wir den Anziehenden nicht genug warnen. Richtig ist einzig und allein eine solide, der Sicherheit von d4 Rechnung tragende Aufstellung (Le3 gehört zu Bd4 wie die Amme zum Säugling!).

Erst wenn Schwarz seine Figuren vom Königsflügel entfernt hat, erst dann darf Weiß zum Angriff blasen! Diesen darf er dann meinethalben im Opferstil durchführen. Man sehe nun Diagramm 163. Weiß hat sich in unserem Sinne entwickelt, der Textzug (Sf6-e8) gibt ihm aber die in allen einschlägigen Fällen heißersehnte Möglichkeit, zum direkten Königsangriff zu schreiten. Das Resultat ist im vorliegenden Falle unsicher, da die Angriffsführung aber in ihrer ganzen Art für die „Isolani-Stellungen“ bezeichnend ist, geben wir einige Varianten.

Diagramm 163

Also nochmals: solid aufbauen, den Isolani stützen (Le3!) und erst dann angreifen, wenn die Gelegenheit sich dazu bietet!

4. Welche Fälle sind für Weiß und welche sind für Schwarz günstig?

Im allgemeinen läßt sich folgendes sagen: Erstrebenswert für Weiß sind folgende zwei Fälle:

  1. Weiß hat d4-d5, e6×d5, Figur nimmt d5 durchgesetzt und erhält hierdurch die bessere weil zentralisierte Stellung (Rubinstein-Tartakower, Baden-Baden 1925)
  2. Weiß hat die c-Linie ausgebaut, vergl. Nimzowitsch-Taubenhaus.

Erstrebenswert für Schwarz sind:

  1. alle Fälle von ausgesprochenem Endspielcharakter (natürlich ceteris paribus),
  2. die Fälle, wo Schwarz Sd5xc3, b2xc3 gespielt hat, um den Bc3 hinterher festzulegen und zu belagern (vergl. unsere Partie 11 und ferner die Note zum 14. Zuge in der Partie 31).

5. Noch einige Worte über das mögliche Entstehen einer Reflexschwäche unter den weißen Damenflügelbauern

Ein Indizium für die Schwäche des Isolani bildet auch die dem Angreifer sich nicht selten bietende Möglichkeit, den Angriff vom Damenbauer nach dem Damenflügel hin übertragen zu können. Einen solchen Fall von „Reflexschwäche“ haben wir in der Partie 21 beobachten können. Ein ähnliches Bild zeigt folgende Partie:

An diesem trefflichen Endspiel ist außer der „Übertragung“ auch die meisterhaft vielseitige Verwertung des Punktes d5 bemerkenswert.

Über die Art der Belagerung des Isolani möchte ich ergänzend feststellen, daß wir es heutzutage nicht mehr für nötig erachten, den gegnerischen Isolani völlig unbeweglich zu machen; im Gegenteil, wir lieben es, ihm einige Bewegungsmöglichkeit zu gewähren und schenken ihm so die Illusion der Freiheit, anstatt ihn in einen Käfig zu sperren. (Das Prinzip der großen Tiergärten, angewandt auf das kleine Raubtier, den Isolani.) Wie wir das machen, zeigt nachfolgendes Spiel. Weiß Lasker (den wir zu den Modernen zählen), Schwarz Tarrasch.

Alles in allem genommen bildet der Isolani ein nicht unwirksames Angriffsinstrument für das Mittelspiel, kann aber im Endspiel recht schwach werden.