1.2 Über positionelle Gedanken - Schädlinge, deren Ausrottung in jedem Fall eine conditio sine qua non für die Erlernung des Positionsspiels bildet
- Der dilettantisch angehauchte (unbedingte) Aktivismus
- die meisterliche Überschätzung der Akkumulierung geringfügiger Vorteile
Es gibt in der Tat eine Reihe von Amateuren, denen das Positionsspiel nicht zu liegen scheint. Zwanzigjährige schachpädagogische Praxis hat mich indes davon überzeugt, daß genanntes Übel leicht aus der Welt zu schaffen ist, da es sich in der überwiegenden Anzahl der Fälle bloß um eine psychologisch falsche Einstellung der betreffenden Amateure handelt. Ich behaupte, daß dem Positionsspiel als solchem nichts mysteriöses anhafte; jedem einzelnen Amateur, der meine Elemente (in den ersten drei Lieferungen) studiert hat, muß es ein Leichtes sein, in den Geist dieser Spielart eindringen zu können, er nehme sich bloß vor,
- das etwaig wuchernde Unkraut (vulgo Gedankenschädlinge) zu vernichten,
- die im weiteren Verlauf gegebenen Gesetze zu erfüllen.
Ein typischer, sehr verbreiteter Gedankenschädling ist der, daß der betreffende Amateur von der Annahme ausgeht, daß jeder einzelne Zug etwas unmittelbares zu leisten habe; demgemäß wird unser Schachfreund stets nur nach Drohzügen suchen, oder aber eine Drohung parieren wollen, alle anderen möglichen Züge wie Ruhe-, Zurechtrückungszüge etc. wird er aber ganz unberücksichtigt lassen. Wir erklären hier mit größtem Nachdruck, daß es ganz falsch ist, sich von einer solchen Auffassung der Dinge leiten zu lassen. Positionszüge sind zumeist weder Droh- noch Verteidigungszüge, vielmehr handelt es sich hierbei nach meiner Auffassung bloß um Züge, die die Position in höherem Sinne sichern sollen, und dazu ist es notwendig, die eigenen Figuren in Kontakt mit den feindlichen oder eigenen strategisch wichtigen Punkten zu bringen. (Siehe später unter „Kampf gegen gegnerische Befreiungszüge“ und „Überdeckung“.)
Wenn ein Positionsspieler, d.h. ein Mann, der es versteht, seine Position in höherem Sinne zu sichern, mit einem reinen Kombinationsspieler spielt, so ereignet sich häufig folgendes Überraschungsmoment: der Kombinationsspieler, der wuchtig angreift, ist bloß auf zweierlei Gegenzüge gefaßt, entweder erwartet er einen Verteidigungszug oder er rechnet auch mit der Möglichkeit eines Gegenangriffes: und nun verblüfft ihn der Positionsspieler dadurch, daß er einen Zug wählt, der in keine der eben genannten Kategorien hineinpaßt; der Zug bringt irgendwie die eigenen Figuren in Kontakt mit einem Schlüsselpunkt und diese Berührung erweist sich sozusagen als wundertätig, die Stellung wird saniert und der Angriff zum Scheitern gebracht. Von in ähnlichem Sinne verblüffender Wirkung pflegt ein Zug zu sein, der einen Punkt deckt, der garnicht angegriffen ist. Der Positionsspieler deckt einen Punkt nicht bloß um des Punktes willen, sondern auch aus dem Grunde, weil er weiß, daß die betreffende Figur durch Berührung mit genanntem Punkt an Stärke zunehmen müsse. Davon mehr unter „Überdeckung“.
Und nun will ich Ihnen zur Illustration eine Partie zeigen, aus der Sie eben skizzierte falsche psychologische Einstellung in Lebensgröße beobachten können. Ich führte die weißen Steine gegen einen recht bekannten, keineswegs schwachen Amateur, der aber die Idee hatte, daß eine reguläre Schachpartie etwa folgenden Verlauf nehmen müsse: „Der eine Partner rochiert kurz, der andere lang, gegen die respektiven Rochadestellungen wird beiderseits ein heftiger Bauernsturm eröffnet und wer zuerst kommt, hat gewonnen!“
Man sehe nun, wie und namentlich wodurch diese etwas dilettantisch angehauchte Auffassung ad absurdum geführt wurde.
Sd5 war ein Positionszug. Die psychologische Einstellung des Führers der Schwarzen ist die von uns oben besprochene. Und die Moral von der Geschicht’: Nicht immer angreifen wollen! Sicherungszüge (in höherem Sinne), gegeben durch die Forderungen, die die Position an uns stellt, sind viel eher zu empfehlen.
Einer anderen irrtümlichen Einstellung begegnet man in Meisterkreisen. Viele Meister und eine Reihe von starken Amateuren glauben nämlich daran, daß es sich beim Positionsspiel in erster Linie darum handle, kleine Vorteile zu akkumulieren, um dieselben dann im Endspiel auszubeuten. Diese Spielart erfordere feinstes Verständnis und wirke auch in ästhetischer Beziehung recht befriedigend.
Demgegenüber möchten wir bemerken, daß das Akkumulieren geringfügiger Vorteile keineswegs den wichtigsten Bestandteil des Positionsspiels bildet. Wir sind eher geneigt, genanntem Manöver eine recht untergeordnete Rolle beizumessen. Ferner wird die Schwierigkeit dieser Spielweise bedeutend überschätzt und schließlich ist es nicht leicht einzusehen, weshalb ein kleinliches Aufspeichern von Werten „schön“ zu nennen sei? Erinnert diese Art nicht einigermaßen an die Tätigkeit eines alten Geizhalses, und wer dürfte letztere „schön“ finden wollen? Wir registrieren somit, daß es ganz andere Dinge gibt, denen sich die Aufmerksamkeit des Positionsspielers zuzuwenden habe, Dinge, die das „Akkumulieren“ ganz und gar in den Schatten stellen.
Was sind das nun für Dinge und worin erblicke ich die Idee des wirklichen Positionsspiels? Darauf erwidere ich kurz und sachlich: in der Prophylaxe!