Des Kämpfers Selbstkritik

Eine zeitgemäße Betrachtung

Der Kämpfer, also beispielsweise der Feldherr, Politiker, Sportbeflissene oder last (but) not least der Lebenskämpfer, müsse ein gewaltiges Maß an Selbstkritik besitzen, sagt eine bekannte Wahrheit, denn nur unter dieser Voraussetzung seien, auf die Dauer, Siege zu erringen. Soweit die „Wahrheit“. Aber Wahrheiten können altern, und daher tut es gut, sie hie und da zu überprüfen.

Jede „Wahrheit“ enthält einen ethischen Kern, eine Moral. Fängt nun diese „Moral“ an, irgendwie an Geltung zu verlieren oder gar sich in ihr Gegenteil zu verwandeln, dann ist die betreffende Wahrheit für eine mehr oder minder feierliche Bestattung reif.

Die hier zu behandelnde Wahrheit unterstellt, dass, solange der Kampf währe, für menschliche Schwächen wie Selbstüberschätzung, Furchtempfindungen aller Art, strahlenden Optimismus oder chronischen Pessimismus kein Platz sei! Der Kämpfer sei bestrebt, aus sich selbst eine Präzisionsmaschine zu machen. — Ganz abgesehen davon, dass die Mechanisierung der Kunst — und jeder echte Kampf ist Strategie, Strategie aber ist Kunst — durchaus nicht den modernen Idealen entspricht; ganz abgesehen davon, müssen wir die unserer Wahrheit zugrundeliegende Moral als schädlich empfinden, und zwar aus folgenden zwei Gründen: Erstens kann und wird sie nicht verfehlen, den jungen ungeübten Kämpfer ungünstig zu beeinflussen, sie wird seine Entschlussfreudigkeit lähmen und ihn in eine krampfhafte Stellungnahme hineinzwingen. Man kann vom jungen Kämpfer nicht ungestraft verlangen, dass er sein Temperament völlig bekämpfe. Noch viel wesentlicher ist aber der zweite Grund: Zugegeben, dass beispielsweise die Selbstüberschätzung im kampftechnischen Sinne als Fehler zu werten sei. Aber kann ein Fehler nicht kompensiert erscheinen?! Und ist er das, wo bleibt denn da die Schädlichkeit des Fehlers? Warum also gegen ihn zu Felde ziehen? — Wir wollen nun versuchen, an einigen konkreten Fällen den Begriff des kompensierten Fehlers klarzulegen.

Der Schreiber dieser Zeilen pflegt dann am besten zu spielen, wenn er in äußerst gedrückter Stimmung in den Kampf zieht. Dem „Fehler“ der Selbstüberschätzung hat er somit seine schönsten Siege zu verdanken. Hier hätten wir es mit einem kompensierten Fehler zu tun. Die nähere logische Verkettung ergibt sich aus Nachfolgendem: In meiner Jugend pflegte ich den Angriff fast regelmäßig zu überstürzen; die infolgedessen erlittenen Schlappen verliefen aber nicht spurlos, ich wurde ängstlich, und so entstand eben ein aus „Überängstlichkeit“ errichteter Schutzwall: In ängstlicher Stimmung suche ich — aus lauter Angst — die eigene Stellung immer mehr und mehr zu konsolidieren, und so gewinne ich schließlich; ziehe ich aber frisch und fröhlich in den Kampf, dann werde ich übermütig, lockere die eigene Stellung und verliere.

Bogoljubow pflegt seine Stellungen gewaltig zu überschätzen, aber gerade dadurch gewinnt er seine Partien. Offenbar benötigt er den Optimismus als Gegengift, vielleicht litt er in seiner frühen Kindheit an Kleinmütigkeit.

Andere Optimisten suchen sich in gleichstehenden Stellungen einen eklatanten Vorteil zu suggerieren, weil ihnen das Bewusstsein, ein gleiches Spiel zu besitzen, keine genügende Sicherheit für die Zukunft gewähren würde: in gleicher Stellung scheinen sie den Gegner zu fürchten. Andere wiederum fürchten den grauen Alltag als solchen, da es ihnen an dem nötigen Sinn für die verschiedenen Schattierungen des Grau mangelt. Daher suchen sie sich die Wirklichkeit durch Optimismus ins Rosenrote zu färben, wo sie besser sehen können.

In allen oben erörterten Fällen hatten die auf Mangel an Selbstkritik basierenden „Fehler“ sich als äußerst nützlich erwiesen.

Es entspricht eben nicht dem Geiste der Zeit, irgendeinen Charakterzug als absoluten Fehler zu betrachten: was bei dem einen als schädlicher Fehler gelten mag, muss bei anderen als tadellos errichteter psychologischer Schutzwall gewertet werden. Alle menschlichen Schwächen aber von vornherein perhorreszieren zu wollen, dies entspricht dem Niveau eines in der Entwicklung zurückgebliebenen Psychologen und ist daher energisch zurückzuweisen. Der Kämpfer benötigt je nach Veranlagung und in Übereinstimmung mit der Geschichte seiner seelischen Entwicklung die entsprechenden Fehler. Es gibt keinen „maschinellen“ Spieltypus, weder im Schach noch auch sonst. Capablancas Schach wurde fälschlich als maschinell aufgefasst, in Wirklichkeit aber dürfte die von ihm angewandte feinste Prophylaxe in dem „Fehler“ der Überängstlichkeit wurzeln.

Ach wie wenig hat die vielgepriesene Selbstkritik doch ausgerichtet: ein Angriff, der mangelhaft geführt ward, wird plötzlich vom Angreifer selbst abgestoppt, und der Angreifer begibt sich, im erhebenden Bewusstsein der vollbrachten Großtat (nämlich: O, welche Selbstkritik!!) heimwärts, er tritt einen geordneten Rückzug an. Und um dieser Leistung willen soll der junge Kämpfer darben und sich kasteien?!! Nein, dies hieße schlechte Moral predigen. Der Kämpfer sei er mit allen Tugenden und Fehlern, die er besitzen mag, nie und nimmer aber eine Präzisionsmaschine!

Quelle: Denken und Raten, 11.11.1928