6.9 Die heroische Verteidigung

Partien 102 - 106

A priori sollte man doch wohl annehmen dürfen, daß alle Gebiete der praktischen Spielführung von den neuen Gedanken in gleichem Maße beeinflußt sind. Doch dem ist nicht so. Das Gebiet der Verteidigung scheint sich der belebenden Einwirkung des modernen Geistes hartnäckig entziehen zu wollen. Ja, es sieht beinahe so aus, als ob die aus allen „Stellungen“ vertriebene pseudoklassische Richtung sich auf dem in Frage kommenden Territorium verschanzen will. Zumindest ist der auf diesem Gebiete erzielte Fortschritt nur sehr minimal: vor einer Angriffsmarke im eigenen Lager wird immer noch schaudernd Abstand genommen, und auch sonst scheint eine ausgesprochen formalistische Auffassung vorzuherrschen. Die ängstliche Besorgtheit um die peinliche Korrektheit der Züge und das scheue Meiden ungewöhnlicher Wege und namentlich die Furcht vor allem, was „kolossal“ wirkt (von ungeheuren Dimensionen ist) — wie lebhaft erinnert dies alles doch an die längst entschwundene „pseudoklassische“ Epoche!

Der Fehler besteht nun u. E. darin, daß man sich der neuerschlossenen Stratageme allzu wenig bedient. Die Anwendung der Prophylaxe, Hemmung, Zentralisierung und Überdeckung sollte auch auf dem Gebiete der Verteidigung von größtem Belang sein. Ja, wir sind sogar der Ansicht, daß die ganze Kunst der Verteidigung hierdurch auf ein höheres Niveau gebracht werden könnte. Macht es doch einen gewaltigen Unterschied aus, ob der vom Feinde beschossene Flügel nur auf seine eigenen Ressourcen angewiesen ist, oder aber ob das ganze Brett Verteidigungsenergie ausstrahle. Denn was wäre beispielsweise die Zentralisierung anders als ein grundsätzlich betontes Mitmachenwollen des ganzen Brettes?! Wir bringen vier Partien, die die heroische Verteidigung illustrieren sollen. Sie zeigen deutlich eine intensive Mitwirkung der oben erwähnten Kampfmotive.

In der Nr. 102 wird ein „kleines“ Zentrum nachdrücklichst überdeckt, und zwar mit dem Erfolge, daß dieses Zentrum der sonst recht unentwickelt wirkenden Aufstellung Festigkeit verleiht. Die im 9. und 10. Zuge zu diesem Behufe gewählte Rückentwicklung ist von wirklich modernem Geiste erfüllt. — An der Nr. 103 erscheint namentlich die Unbefangenheit, mit der die Verteidigung geführt wird, beachtenswert: eine ganz unwahrscheinlich wirkende, dem Gebiet der künstlichen Endspielkomposition entlehnte Wendung wird den Zwecken der Verteidigung nutzbar gemacht.

Die Nr. 104 ist besonders dadurch bemerkenswert, daß die neue Abwehrtechnik hier voll und ganz zu ihrem Rechte gelangt: ein vehementer Flügelangriff wird durch rechtzeitig einsetzendes Gegenspiel, nämlich eine mit äußerster Intensität betriebene Zentralaktion, zum Stehen gebracht. Im übrigen ist diese Partie auch für die antipseudoklassisch wirkende „Kolossalität“, von der oben die Rede war, bezeichnend: Angriffe vor ungeheurer Wucht werden durch ebenso gewaltige Gegenmaßnahmen neutralisiert. Dazu wäre zu bemerken: da diese „Kolossalität“ im wesentlichen nur das Produkt einer neuen Einstellung darstellt, im übrigen aber keine besonders hervorragende Spielstärke erfordert, so dürfte erstere auch für den weniger geübten Schachfreund keineswegs unerreichbar sein.

Auch in der Nr. 105 feiert die sich auf hypermoderne Prinzipien stüzende Abwehrtechnik einen vollen Triumph. Der vom Gegner eingeleitete schwarzfeldrig betonte Angriff wird unter gelegentlicher Verwertung weißfeldriger Gegenmotive solange „hingehalten“, bis sich Gelegenheit bietet, unter Rückgabe des eroberten Materials einen „weißfeldrigen Staatsstreich“ zu inszenieren (ähnlich dem Aljechinschen Staatsstreich aus der Nr. 100, doch mit dem Unterschiede, daß der in der Nr. 105 inszenierte Streich über eine gesundere Grundlage verfügte).

Die Zahl der großen Verteidiger ist sehr gering; der Verfasser kennt nur folgende Namen: Steinitz, Dr. Emanuel Lasker, Amos Burn, Dr. O. S. Bernstein, Duras und last not least Louis Paulsen. Wir hoffen, daß unsere Forschungen dazu beitragen werden, die Zahl der guten Verteidiger zu mehren. Bei dieser Gelegenheit wollen wir übrigens mit Genugtuung feststellen, daß einige jüngere Meister, zum Beispiel der strategisch glänzend veranlagte Sämisch, Interesse und Geschick für die Verteidigung schwieriger Stellungen zeigen. Waidmannsheil!