6. Streifzüge durch hypermodernes Alt- und Neuland
Zunächst muß der irrigen Annahme entgegengewirkt werden, als ob nur dieser Abschnitt, „im Gegensatz“ zu den ersten fünf Abschnitten, hypermodern sei. Nein, auch die anderen Abschnitte waren es voll und ganz. So bildete die „Hemmung“ und namentlich die „Überdeckung“ ja nahezu einen Vortrupp der Hypermoderne, denn dieser mein Eigenbau (was wäre übrigens an meinem System nicht Eigenbau?) harrt ja erst der Anerkennung, ist also noch nicht mal sanktioniert. (So ging es auch meiner Zentralphilosophie und mehreren anderen Systemregeln, es hatte immer erst eine geraume Zeit gedauert, ehe die Hypermoderne sie sich einverleibte.) Als von einem wie immer gearteten Gegensatz kann keine Rede sein. Die Idee dieses sechsten Abschnittes ist vielmehr darin zu erblicken, daß wir teils verschiedene kleine Anregungen geben wollen, teils aber den Wert der ersten revolutionären Errungenschaften in aller Gemächlichkeit zu überprüfen gedenken.
Wir fassen die pseudoklassische Schule (Tarrasch-Zeit) nach wie vor als die formalistische Richtung im Schach auf, während wir die hypermoderne Schule als eine nach innerer Wahrheit strebende zu betrachten geneigt sind. Oft ist es nur eine kleine Nuance, aber sie genügt, um uns die Vorgänge in einem neuen, warmen und echten Licht zu zeigen (statt der „kalten“ und „unechten“ Beleuchtung der formalistischen Zeit). Ein Beispiel wird genügen. Mein Postulat, das wir unter 3. in diesem Abschnitt bringen, sagt, daß bei fester eigener Zentralstellung Flügeldiversionen mit noch so schleierhaften Zielen gestattet sind. Wäre nun „feste Zentralstellung“ im Sinne der formalistischen Schule zu verstehen (also mindestens die gleiche Bauernanzahl in der Mitte und mindestens ebenso weit vorgeschritten wie beim Gegner), so wäre das Ganze falsch und unecht. Ebenso, wenn wir die Nuance „schleierhafte Ziele“ wegließen. Denn gerade darin liegt die Pointe, daß wir im angedeuteten Falle einem „Angriff ins Blaue hinein“ vollen Ernstes das Wort reden. — Hiermit schreiten wir zur Analyse der einzelnen Bestandteile unseres Abschnittes.