6.3 Zentrum und Flügelspiel

Partien 84 - 88

Was ist „besser“ (im amerikanischen Sinne des Wortes, also von größerer praktischer Bedeutung für den zu erreichenden Erfolg), der Zentralangriff oder die Flügeldiversion? Diese Frage ist eine sehr diffizile. Einleuchtend ist allerdings, daß Flügelangriffe nur bei genügend fester eigener Zentralstellung unternommen werden dürfen, was wäre aber, fragt sich, unter genügend fester Zentralstellung zu verstehen? Daß in den durch die Bauernstellung Weiß: d4, c4, e3; Schwarz: d5, c6, e6 charakterisierten Positionen der Zug c4—c5 durch den zentralen Gegenstoß e6—e5 widerlegt wird, diese Tarrasch'sche Auffassung ist vom Verfasser bereits im Jahre 1913 als wenig stichhaltig nachgewiesen worden (vergleiche „Mein System“, Nachtrag). Der Zug e6—e5 (bzw. f7—f5 in der Position Weiß: Be4, d5, f2; Schwarz: d6, e5, f7 usw.) muß vielmehr als eine normale Reaktion gewertet werden, von einer „Widerlegung“ kann aber im Ernste kaum die Rede sein. Die gegenseitigen Aussichten im Kettenbereich (denn die durch c4—c5 bzw. d4—d5 bedingte Abschließung hat in beiden Beispielen automatisch zum Entstehen von Bauernketten geführt) sind als ungefähr gleichwertig zu taxieren. Diese meine Anschauung hat sich längst durchgesetzt. Ich selbst hatte mich allerdings schon im Jahre 1907 dazu bekannt. Man sehe den Anfang meiner Karlsbader Partie gegen Tschigorin (1907).

Die moderne Auffassung geht offenbar dahin, jede gesunde, wenn auch noch so eingeschränkte Zentralstellung als verteidigungsfähig (= fest) anzuerkennen. In der Nr. 85 tue ich dieses in so eklatanter Weise, daß ich in Verfolgung meiner Regel („Bei fester Zentralstellung sind Diversionen mit noch so schleierhaften Zielen gestattet“) einen höchst eigentümlichen (die Kritik würde sagen: bizarren) Flügelangriff unternehme.

Ein weiteres Neulands - Postulat findet der Leser in der Nr. 88. Dasselbe lautet: „Nach den Flügeln schielen, das Zentrum meinen, ist der tiefste Sinn des Positionsspiels.“ Im übrigen verweisen wir auf die nun folgenden Partien, die der modern orientierte Leser besonders aufmerksam nachspielen möge.