9.6 Die Übertragung des Angriffes

In der Stellung des Diagramm 119 [nach 6. Ld3, Anm. W.K.] hatte Schwarz, wie mehrfach auseinandergesetzt, die Wahl zwischen zwei verschiedenen Spielplänen, nämlich zwischen 6. ... Ld7 (vulgo fortgesetzter Überrumpelungstaktik) oder 6. ... cxd4 (vulgo positioneller Belagerung der auf d4 fixierten Basis d4). Es ist gegeben, daß ein Moment eintreten müsse, da Schwarz sich gezwungen sieht, seine Wahl zu treffen; niemals ist es möglich, sich die Wahl zwischen zwei Spielweisen beliebig lange offen halten zu können, am wenigsten aber im Kettenbereich! Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Verteidiger – sich auf die in der fraglichen Schwebestellung (denn um eine solche handelt es sich ja) vorhandenen Schlagmöglichkeiten stützend – ein ihn befreiendes Losschlagen drohen kann. Ist diese gegnerische Drohung erst reif geworden, so zwingt sie uns auch zur unmittelbaren Entscheidung im Sinne einer zu treffenden Wahl. Ein anderes Moment, das zur Entscheidung zwingt, kann darin bestehen, daß der Gegner uns an einem anderen Flügel bedroht; somit hätten wir uns zu einer möglichst scharfen Gegenaktion zu entschließen und daher erschien ein fortgesetztes Liebäugeln mit zwei verschiedenen Spielplänen nicht länger zeitgemäß.

Während bisher nur von einer Wahl zwischen verschiedenen Angriffsarten die Rede war, das Angriffsobjekt (d4 in unserem vorerwähnten Beispiel) als solches aber feststand, also keinem Zweifel unterlag, soll im nachfolgenden gezeigt werden, wie schmerzlich selbst die Wahl des Angriffsobjektes gelegentlich sein kann. Es handelt sich um eine Bauernkette, die angegriffen werden soll. Was ist denn hierbei zweifelhaft, wird der freundliche Leser fragen. „Natürlich ist der Angriff gegen die Basis zu richten.“ Sehr wohl, aber wie wenn die Basis aus irgend einem Grunde garnicht zu erschüttern ist? Wäre es da nicht opportun, den Angriff gegen eine „neue Basis“ zu richten? Wie das gemacht wird, lehrt nachfolgend skizziertes Stratagem der „Übertragung“.

Betrachten wir nun folgende Kette, entstanden nach 1. e2-e4 e7-e5 2. Sg1-f3 Sb8-c6 3. Lf1-c4 Lf8-e7 4. d2-d4 d7-d6 5. d4-d5 Sc6-b8 . Weiß wählte nun das Zentrum als Kriegsschauplatz, also etwa Ld3 nebst c2-c4 mit geplantem gelegentlichen c4-c5 (er hätte sich aber auch für die Alternative Figurenangriff – ohne c2-c4 - gegen den durch d5 eingeengten feindlichen Damenflügel entscheiden können). Schwarz sucht f7-f5, mit Erschütterung der weißen Basis e4, zu ermöglichen. Die pseudo-klassische Schule hielt f7-f5 für eine Widerlegung von d4-d5; dies ist jedoch, wie ich in meinem revolutionierenden Artikel „Entspricht Dr. Tarraschs Moderne Schachpartie moderner Auffassung“ (erschienen 1913) nachgewiesen habe, nicht der Fall: f7-f5 ist nur eine natürliche Reaktion gegen d4-d5, und als solche ebenso erträglich als das weiße c2-c4-c5. Es könnte im wesentlichen zur Diagrammstellung 122 kommen.

Diagramm 122

Der schwarze Angriff gegen die Basis e4 sieht nicht vielversprechend aus: auf allfälliges f5xe4 kann sowohl f3xe4 (und Basis e4 ist gut gedeckt) als auch S oder Lxe4 mit gutem Ersatz-Zentrum die Antwort sein. Daher spielt Schwarz f5-f4, er vertauscht die Basis e4 mit der neu entstehenden f3; freilich wäre auch letztere (gegen das geplante g7-g5-g4xf3) genügend zu decken, aber die weiße Königsstellung erscheint dann bedroht und namentlich eingeengt. Mit anderen Worten: die weiße Königsstellung stempelt f3 zu einer schwächeren Basis als e4 es wäre.

Aber auch andere Momente können die eine Basis schwächer als die andere erscheinen lassen, daher ist die Übertragung des Angriffes von der einen Basis zur nächsten nicht eine Zufälligkeit, wie Alapin und die anderen Meister vor Erscheinen genannten Aufsatzes „Entspricht etc.“ geglaubt haben, vielmehr bedeutet genannte Möglichkeit eine natürliche Waffe mehr im Kampfe gegen jede Bauernkette. Ein Gesamturteil über die Stärke einer Kette muß etwa so lauten: „Basis e4 schwer angreifbar, Basis f3 (nach der Übertragung f5-f4) aus dem und dem Grunde recht empfindlich etc.“ Das ist der von mir entdeckte wahre Sachverhalt im Kettenbereich.

Da das 9. Kapitel sonst allzusehr wachsen würde, müssen wir uns mit obigen knappen Andeutungen begnügen. Die Übertragung ist typisch, man könnte unendlich viele Partien bringen; wir zeigen nur folgenden Anfang:

Ehe wir nun unser übliches Schema bringen, wollen wir noch kurz darauf hinweisen, wie schwierig es ist, das Spiel in der Kette richtig zu führen: Bald nach Entstehen einer Kette stehen zur Wahl „Flügel“ oder „Basis“; dann später, gelegentlich eines gegen die Basis geführten Angriffs, müssen wir die schwierige Entscheidung zwischen „Überrumpelungstaktik“ und „Belagerungskrieg“ treffen. Und nicht genug damit, haben wir stets mit einer möglichen Übertragung des Angriffes auf das nächste Kettenglied zu rechnen. Wann und ob diese Übertragung vorzunehmen ist, ist wahrlich nicht immer leicht zu entscheiden. Und außerdem dürfen wir nie, trotz all dieser Angriffsmöglichkeiten vergessen, daß auch wir eine verwundbare Basis haben.

Ein schwieriges Kapitel, das aber nunmehr dank unseren Ausführungen viel von der ihm anhaftenden Unklarheit verloren hat. Man sieht, meine Gesetze betreffend Bauernketten sind organisch aus meinen Regeln über „offene Linien“ und „Spiel gegen den Blockeur“ hervorgewachsen.

Weitere Erwägungen über Bauernketten findet der freundliche Leser im Kapitel über Hemmungen und Zentrum.