1.6 Worin hat das Leitmotiv der wahren Strategie zu bestehen?

Antwort: in einer bewußten Überdeckung des Zentrums (statt der fehlerhaften, aber beliebten Geringschätzung desselben) und ferner im systematisch durchzuführenden Stratagem des Zentralisierens (statt der ebenso fehlerhaften, wie in weitesten Kreisen populären „Schwenkung“!). Das Zentrums- gegen Flügelspiel wird näher beleuchtet: der „Zentralspieler“ verdient den Sieg.

In der eben vorgeführten, außerordentlich charakteristischen Partie sahen wir, wie das „Schwenken“ und die gleichsam prinzipielle „Nicht-Beachtung der zentralen Schlüsselpunkte“ ein gar neckisches Spiel trieben. Das eben erwähnte „Schwenken“ taucht zuweilen auch in Meisterpartien auf, wir erinnern nur an Opocensky-Nimzowitsch, Marienbad. In der Diagrammstellung 138 geschahen nämlich folgende Züge:

Diagramm 138

Typisch für Meisterpartien - und der begabte tschechische Meister Opocensky bildet natürlich keine Ausnahme - ist und bleibt aber das Zentralisieren. Namentlich Aljechin bedient sich dieser Strategie mit besonderer Vorliebe, und ist erstere (neben dem Spiel gegen gegnerische Felder von bestimmter Farbe) zum Leitmotiv aller seiner Partien geworden. Selbst wenn das am Königsflügel gezückte Messer ihm anscheinend an der Kehle sitzt, findet er immer noch Zeit dazu, Truppen in der Mitte zu massieren! Der lernbegierige Adept nehme sich daran ein Beispiel! In unserer am Semmering gespielten Partie (1926) geriet er nach

Diagramm 139

Auch ich bin, sowohl theoretisch wie praktisch, absolut für das Zentralisieren. Man prüfe etwa meine Partie gegen Yates (Semmering 1926):

Diagramm 140

- Weitere eklatante Beispiele einer Zentralisierung findet man in der Meisterpraxis in Hülle und Fülle; wir nennen hier nur Aljechin-Treybal, Baden-Baden 1925, und Nimzowitsch-Spielmann, San Sebastian 1912.

Und nun zur Analyse des Zentrums- gegen Flügelspiel! Die vorhin demonstrierte Partie Nimzowitsch-Aljechin zeigt uns an einem Beispiel, in welcher Weise angedeuteter Kampf vor sich zu gehen pflegt.

Stets hat der Zentralspieler die besseren Aussichten, ganz besonders aber in dem Falle, wenn es sich um nachstehend skizzierte, häufig wiederkehrende Gruppe von Stellungen handelt: der eine Partner hat eine an und für sich recht vielversprechende Diversion nach dem gegnerischen Königsflügel hin unternommen. Alles wäre somit in schönster Ordnung, aber (O, dieses Aber!) der Gegner beherrscht eine freie Mittellinie! Und an dieser pflegt sich der Flankenangriff mit erstaunlicher Regelmäßigkeit zu verbluten. Noch erstaunlicher als diese Regelmäßigkeit ist aber der Umstand, daß angedeutete Diversion (vorgenommen unter oben skizzierten erschwerenden Bedingungen) immer wieder neue Anhänger findet. Und alle zahlen sie dann ihren Tribut (in Form von entsetzlichen Niederlagen) an die unumstößliche Wahrheit: Mittellinie siegt über Flankenangriff. Der vom Autor dieses Buches entrichtete Tribut bestand in der Kleinigkeit von einem entgangenen ersten Preise (Ich verlor die Entscheidungspartie gegen Rubinstein in San Sebastian 1912 und mußte mich infolgedessen mit dem 2. und 3. Preise bescheiden.).

Wir registrieren nun zunächst (im Diagramm 141) das Schema für angedeutete Kampfsituation.

Diagramm 141

Schema zum Kampfthema Mittellinie gegen Flankenangriff. Den Träger des letzteren bildet Sf4.

Der schwarze Angriff muß stets daran scheitern, daß die eigenen Türme die unangenehme Verpflichtung haben, die eigene Basis (in diesem Falle die 7. und 8. Reihe) vor Einbruch der einfallsbereiten weißen Türme zu schützen. Außerdem ist e5 mangelhaft gedeckt (was kein Zufall ist, denn Sf3 ist im Einklang mit dem ganzen weißen Aufbau zentralisiert = gegen das Zentrum e5 gerichtet). Da die ganze Angelegenheit eine im Sinne der Zentrallehre außerordentlich wichtige ist, so geben wir zur Illustration eine ganze Partie.

Diagramm 142

Die schlimmste Niederlage in meiner 22jährigen Schachkarriere! - Nach Schluß des 1. Kapitels folgt die in ähnlichem Sinne lehrreiche Partie Kline-Capablanca.