7.2 Der Begriff des ganz und der des halbgefesselten Steines

Ein gefesselter Stein deckt nur imaginär! Man zeige Mannesmut und setze seine eigene Figur unerschrocken auf ein solchermaßen „gedecktes“(?) Feld. Die Eroberung des in Fesseln Schmachtenden. Die Abtauschkombinationen auf dem Fesselungsfelde (= Standort des gefesselten Steines) und die derselben zugrundeliegenden zwei verschiedenen Motive.

Zu einer Fesselung gehören drei Akteure:

  1. der fesselnde Stein,
  2. der gefesselte, gegnerische Stein,
  3. die dahinterstehende (also die hinter dem gefesselten Stein stehende) Figur.

Der fesselnde Stein greift die „dahinterstehende“ Figur an, über den gefesselten Stein hinweg; letztgenannter steht also im Wege zwischen den beiden erstgenannten. Die dahinterstehende Figur ist zumeist adligen Geblüts – sonst würde sie sich nicht hinter dem Rücken eines anderen so ängstlich verstecken – also König oder Dame. Alle drei Akteure stehen entweder in der gleichen Geraden, oder in der gleichen Schrägen, siehe Diagramm 88.

Diagramm 88

Th4 fesselt Bauer h6 (halb); Lg1 fesselt Sc5 (ganz). Die „dahinterstehenden“ Figuren sind Th7 bzw. Ka7.

Der gefesselte Stein darf nicht ziehen, weil sonst die dahinterstehende Figur dem vorhin maskiert gewesenen Angriffe zugänglich würde. Ist eben angedeutete Unbeweglichkeit absolut, d.h. darf der gefesselte Stein überhaupt keinen wie immer gearteten Zug tun, so haben wir es mit einer Ganzfesselung zu tun; stehen hingegen dem gefesselten Steine einige Felder, nämlich in der Richtung auf den fesselnden Stein zu, zur Verfügung, so ist die Fesselung nur „halb“ zu nennen. Im Diagramm 88 ist die Turmfesselung „halb“, da h6-h5 möglich ist. Ein gefesselter Springer ist stets ganz gefesselt. Von den anderen Figuren läßt sich sagen: einen Kollegen von der gleichen Fakultät, sprich Gangart, kann man nur halb fesseln. Beispiel: Weiß Lh1: Schwarz Lc6,Kb7;

hier ist Lc6 nur halb gefesselt, er darf in der Diagonale c6-h1 auf- und abgehen. Ein Bauer kann nur durch eine Diagonalfigur ganz gefesselt werden, bei einer gradlinigen Fesselung müßte der fesselnde Stein den gefesselten Bauern blockieren (z.B. Weiß Tg6, Schwarz Bg7, Kg8),

um eine völlige Unbeweglichkeit zu erzielen. Aber diese Unbeweglichkeit hätte mit der Fesselung an sich nicht viel zu schaffen und wäre zu gleichen Teilen Resultat der Fessel- wie Blockadewirkung.

Ein gefesselter Stein deckt nur imaginär! Er tut nur so, als ob er decken würde; in Wirklichkeit ist er ja gelähmt und unbeweglich. Daher darf man seine eigenen Offiziere getrost en prise stellen: der gefesselte Stein darf doch nicht zugreifen. Beispiel ( Diagramm 89):

Diagramm 89

Rechts 1. Dxg3+ und gewinnt die Dame. Links 1. Dxa6+ und setzt matt.

Die Gewinnzüge 1. Df3xg3+ bzw. 1. Da5xa6+ sind leicht zu finden; es genügt die Feststellung, daß Lf4 bzw. Bb7 gefesselt seien, also sind die „sonst“ gedeckten Punkte g3 bzw. a6 ganz und gar ungedeckt. Also man suche nach den „ansonsten“ gedeckten Punkten und erkläre dieselben sodann mit Recht für vogelfrei! Wie leicht, und doch wird der weniger geübte Schachfreund eher seinen Kopf in den Rachen eines Löwen zu legen willens sein, als daß er seine Dame en prise (!!) stellte! O, diese Ehrfurcht vor den angestammten Rechten! Mut! Mut! Der gefesselte Stein ist ja machtlos! Und gehört es nicht zu den allerschönsten Tugenden des Bürgers, Mut zu zeigen, da wo gar keine Gefahr droht.

Sehr häufig ist es eine lohnende Sache, auf Eroberung des gefesselten Steines zu spielen. Uns, die wir wissen, daß jeder unbewegliche (ja selbst nur schwach gehemmte) Stein zur „Schwäche“ tendiere, wird dieser Sachverhalt nicht überraschen. Parallel mit der Aufgabe, den gefesselten Stein zu erobern, läuft aber das Problem, die Entfesselung zu verhindern, denn mit dieser würde ja die Beweglichkeit wiederkehren und somit auch die Stärke.

Abgesehen davon, daß die Möglichkeit einer Entfesselung stets im Auge zu behalten sei, verläuft aber die Eroberungsaktion gegen den gefesselten Stein nach bekannten Mustern; also Angriffe häufen und im Falle genügender Deckung die Verteidiger dezimieren! Ein absolutes Plus wäre aber doch zu buchen: nämlich im Falle eines gefesselten Steines wirkt der Angriff durch einen Bauern entscheidend. Daß dem so sein muß, geht aus der Tatsache hervor, daß ein Offizier sich einem Bauernangriff nur durch die Flucht entziehen kann. Ist aber der Offizier gefesselt, so ist er gegen einen angreifenden Bauern wehrlos, da Flucht eben unmöglich erscheint. Siehe Diagramm 90.

Diagramm 90

Zwei elementare Beispiele für die Eroberung des gefesselten Steines durch Bauernangriff.

Rechts geschieht 1. Tf1-h1 g7-g6 und nun kommt der Bauersmann: 2. g2-g4 . Links hat es der Bauer nicht gar so leicht ranzukommen, er muß zunächst einige Näherstehende „wegpuffen“; solches geschieht durch 1. Ta3xa5 b6xa5 2. b5-b6 und gewinnt.

Im allgemeinen ist der Angriffsplan gegen einen gefesselten Stein so ein Mehr von Angreifern gegenüber den Verteidigern des Kampfobjektes (in diesem Falle ist der gefesselte Stein unser Kampfobjekt). Geben uns, wie gesagt, die größte Mühe; als Ideal betrachten wir aber den Bauernangriff, der, wie häufig der Fall, dem Ganzen die Krone aufsetzt. Betrachten wir beispielsweise das Diagramm 91 links.

Diagramm 91

Bauernangriff nach vorhergegangener Nackenmassage, vorgenommen durch Offiziere.

Aus der Stellung ist die vor sich gegangene intensive Belagerung des gefesselten b6 deutlich zu ersehen. (Übrigens wären die – ideellen – Resultate dieser Belagerungsarbeit bereits in der passiven Stellung der schwarzen Verteidiger zu buchen.) Aber nun geht der Bauer vor, und dieses Vorgehen führt zu einem mehr handgreiflichen Resultat.

Im selben Diagramm rechts ist der Sg7 kläglich gefesselt, der „dahinterstehenden“ Figur entspricht hier die Mattdrohung auf h7. Durch das Vorrücken des h-Bauern hat Weiß einer Entfesselung durch Kh8-h7-g6 vorgebeugt; der nur durch Offiziere erzeugte „Druck“ gegen unseren gefesselten Springer ist nun recht empfindlich, führt aber noch zu keinem unmittelbaren Ergebnis. Aber nun rückt der f-Bauer vor, den Dolch im Gewande, und das entscheidet. Also die Offiziere „drücken“ (zuweilen genügt dies zur Eroberung, wie ja überhaupt mit dem Offizier keineswegs zu spaßen ist), des Todesurteils eigentlicher Vollstrecker ist und bleibt aber der Bauer.

Die Abtauschkombination auf dem Fesselungsfelde

1. Motiv. Siehe Diagramm 92, rechts.

Diagramm 92

Rechts: Der Abtauschkombination 1.Motiv Links: Das 2. Motiv

Hier möge es sich um die Eroberung des gefesselten Bauern g7 handeln. Wir „häufen“ Angriffe (das „Übergewicht“ von 3:2 ist bereits erreicht!), erleben aber die Enttäuschung, daß besagter Bauer frisch und fröhlich vorrückt (g7-g6); der Schlingel war ja garnicht gefesselt, höchstens „halb“! durch 1. Sh5xg7 Lf8xg7 2. f5-f6 . Die Idee besteht darin, daß Weiß den halbgefesselten Bauer g7 durch den ganzgefesselten Läufer g7 ersetzt. Dieses war der Abtauschwendung erstes Motiv.

Zu erledigen wäre aber noch die „knifflige“ Frage, warum Weiß trotz Hergabe eines Angreifers das Übergewicht – gegen g 7 – behaupten konnte. In der Tat, vor Sh5xg7 hatte Weiß drei Angreifer: Turm, Springer und den sprungbereiten Bf5. Schwarz hatte zwei Verteidiger: König und Läufer. Nach geschehenem Sh5×g7 behielt aber Weiß nur zwei Angreifer, während Schwarz doch anscheinend keine Einbuße erlitten hatte. Die Fehlerhaftigkeit obigen Raisonnements liegt im letzten Passus: freilich sind die beiden Verteidiger, König und Läufer noch am Leben, aber der Läufer figuriert keineswegs mehr als Verteidiger von g7, ist vielmehr selbst zu einem gefesselten Angriffsobjekt geworden. Also hat die Manipulation 1. Sh5xg7 Lf8xg7 sowohl einen Angreifer als auch einen Verteidiger unschädlich gemacht und daher erscheint es erklärlich, daß der Status quo aufrecht erhalten blieb.

2. Motiv.

In der Diagrammstellung 92 (links) ist der fesselnde Turm b5 angegriffen; ihn wegziehen hieße dem Gegner das Tempo zur erwünschten Entfesselung geben, beispielsweise 1. Tb2 Ka7 2. Tdb1 Sd6. Richtig ist 1. Tb5xb7 Tb8xb7 und nun 2. Td1-b1 und gewinnt. Da das Opfer auf b7 hier nur mit Rücksicht auf den zu umgehenden Tempoverlust gebracht wurde, so müssen wir hier das Vorhandensein von Motiv 2 anerkennen.

Die beiden Motive können aber auch in einer Kombination vereint auftreten; man betrachte Diagramm 94.

Diagramm 94

Eine Tempogewinn-Kombination, wird man sagen. Sehr richtig, aber dieser Tempogewinn wurde so erzielt, daß wir den „halbgefesselten“ Läufer durch den „ganzgefesselten“ Turm zu ersetzen wußten. Alles in allem handelt es sich also in diesem Falle um eine Verquickung beider Motive.

Den Abschluß dieses Abschnittes möge ein Beispiel bilden, welches uns die Ausnützung der Fesselung unter Zuhilfenahme des „mit Recht so die Elastizität der den gefesselten Stein deckenden Figuren sehr gering, ja zuweilen ist die Deckung ganz eindeutig (will besagen, er kann nur von einem einzigen Felde aus decken). Siehe Diagramm 95.

Diagramm 95

Damit wäre das Spiel gegen den gefesselten Stein im wesentlichen erschöpft. Wir schreiten nun zur „Entfesselung“.