4.7 Wann ein Freibauer vorrücken soll

a) um seiner selbst willen, b) um für den nachrückenden (plombierenden) König Terrain zu erobern, c) um sich als Lockopfer darzubieten. Über die Größe des Abstandes zwischen feindlichem König und dem Lockopfer. Das appetitstärkende Königsmanöver. Vom Jüngling, der auszog, um sich in der Welt eine Siegerstellung zu erobern.

„Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu“, daß der weniger kundige Amateur seinen Freibauern in einem Moment vorrücken läßt, der der hierzu am wenigsten geeignete sein dürfte. Bei zwei verbundenen Freibauern zieht er beispielsweise 1. b5-b6+? (siehe Diagramm 59a) und gestattet so eine Riesenblockade. Es dürfte daher von praktischem Wert sein, die Fälle zu registrieren, in denen das Vorrücken angezeigt ist. Wann ist ein Freibauer als marschbereit zu betrachten? Wir unterscheiden drei Fälle:

Diagramm 63

Rechts: Vormarsch des f-Bauern zwecks Terraingewinn für den nachrückenden König. Links: Die spiritistische Séance!

  1. Wenn dieses Vorrücken den Freibauern seinem Endziel näher bringt (ist nur der Fall bei einsetzender schwacher Blockade), oder wenn der vorrückende Freibauer insofern an Wert gewinnt, als er nunmehr wichtige Punkte decken hilft (siehe meine Partie gegen v. Gottschall; Freibauer, Abschnitt 4. Dort half d5-d6 Punkt e7 decken mit der Drohung Se7 oder Te7.). Dagegen ist es falsch, einen Bauern vorzustoßen, wenn dieser hilflos blockiert werden kann und andererseits nur wertlose Punkte deckt. Es ist leicht, Freibauern in die Welt zu setzen, viel schwieriger fällt es, für ihre Zukunft sorgen zu müssen.
  2. Wenn der vorrückende Freibauer einem nachrückenden Stein Terrainfreiheit schafft, namentlich aber dem eigenen König Gelegenheit gibt, gegen einen neuen gegnerischen Bauern vorzurücken. (s. Diagramm 63, rechts.)
    Diagramm 63 rechts
    Der Vormarsch geschah also bloß, um den schwarzen König abzudrängen, damit der eigene König an Bh5 herankäme!
  3. Das Vorgehen erfolgt, um den Bauern zu opfern: Solchermaßen soll der gegnerische König entscheidend abgelenkt werden (siehe Diagramm 62). Ein anderes Beispiel wäre folgendes: Weiß Kg3, Ba4 und h2; Schwarz Kh5, Ba5. Hier soll der weiße h-Bauer als „Ablenkungsopfer“ für das Vaterland sterben. Die Frage ist nur, wie und namentlich wo? Da die ablenkende Wirkung mit der Größe des Abstandes wächst, so wäre es nicht opportun, den h-Bauern vormarschieren zu lassen, da genannter Abstand (zwischen Lockopfer und feindlichem König) hierdurch geringer würde. Richtig ist vielmehr ein sofortiges Hinüberspielen des Königs nach dem anderen Flügel, also
    Ganz schlecht wäre dagegen 1. h4?? (Nicht genug damit, daß er den h-Bauern opfern will, er präsentiert ihn gar auf dem Präsentierbrett! Das nenne ich wahrlich die Noblesse übertreiben!).
    Nach 1. Kf4! Kh4 2. Ke5 Kh3 darf sich die schwarze Majestät trösten, denn der Marsch von h5 nach h3 schafft Appetit: so wird Bh2 zu einem netten Gabelfrühstück, eingenommen nach anstrengender Spaziertour! Der Lernende beherzige aber als Resumé: gewiß will das Lockopfer sterben: doch unter größtmöglichem Zeitverlust für den Gegner.

Es ist gar nicht immer so einfach, die Motive eines Bauernvormarsches zu erkennen. Siehe Diagramm 63, links.

Diagramm 63 links

Die Idee war folgende: die Pattsetzung des schwarzen Königs erzwingt stets ein Vorlaufen des schwarzen a-Bauern, dem der weiße a-Bauer so zu begegnen weiß, daß nach vollzogenem „Festrennen“ der a-Bauern Weiß am Zuge ist. Letzterer spielt dann Kd6 oder Kb6 und gewinnt.

Die ganze Sache mit dem Vorgehen des c-Bauern wäre somit unter a) zu rubrizieren: der c-Bauer ist um seiner selbst willen vorgegangen, denn die Tempo-Transaktion beim Festrennen der a-Bauern machte ihn zu einem Gewinnbauern, während er doch sonst, mit Hinblick auf den zurückgebliebenen eigenen König, als Remisbauer anzusprechen gewesen wäre.

Ich pflege obiges Endspiel als spiritistische Séance zu bezeichnen. Es erscheint nämlich auf den ersten Blick unerklärlich, daß dieses Endspiel mit einem Bauern auf a2 gewonnen, mit einem solchen auf a3 (statt auf a2) aber nur unentschieden sei.

Wir beschließen das Kapitel vom Freibauern durch Vorführung einiger Schlußspiele und Partien und wollen noch einmal betonen, daß wir genanntes Kapitel bereits als Vorschule zum Positionsspiel betrachtet haben: daher das liebevolle Eingehen auf positionelle Details, wie die verschiedenartigen Funktionen des Blockeurs etc. – Wer übrigens nur wenig Sinn für abstraktes Denken hat, möge die „Begründung der Blockadepflicht“ überspringen.