2.3 Hemmung. Die „mysteriösen“ Turmzüge
Über echte und unechte Befreiungszüge und wie dagegen anzukämpfen ist.
Zu einer Zeit, da es noch üblich war, über mich mit vereinten Kräften herzufallen, um so meine Ideen ins Lächerliche zu ziehen, gab es einzelne Kritiker, die meine Turmzüge mit feinem Spott als mysteriös zu bezeichnen pflegten. Einen solchen Turmzug findet man beispielsweise im Falle Diagramm 152:
Diagramm 151
Damenflügel und Zentrum aus der Partie v. Gottschall-Tarrasch (1888). Die weißen Türme sind patt. Man beachte auch die geringe „Elastizität“ des weißen Turmes a2 nach dem Königsflügel hin.
Diagramm 152
Blackburne-Nimzowitsch 1914. Schwarz machte den „mysteriösen“ Turmzug Tf8-e8. Der Turm soll hier als Präventivfigur gegen d3-d4 fungieren.
Weiß will offenbar d3-d4 spielen, in irgend einem Moment, da solches angängig erschiene, 1. ... Tf8-e8 soll nun diesen befreienden Zug für alle Zeiten erschweren helfen. Es handelt sich also um eine Präventivwirkung. Mysteriös ist an dieser Sache eigentlich nur die äußere Form des Zuges (= ein Turm besetzt eine vorläufig geschlossene Linie), nicht aber dessen strategisches Ziel. Trotzdem wollen wir die Bezeichnung „mysteriös“ beibehalten, nur richtet sich die Ironie diesmal nicht gegen die Züge.
Von einem Offizier bloß direkte Angriffswirkung verlangen zu wollen, entspricht dem Niveau eines Dutzendspielers. Der regere Schachgeist stellt auch an seine Offiziere mit Recht die Forderung der Präventivwirkung. Die Sachlage ist typischerweise folgende: Eine vom Gegner geplante Befreiungsaktion (zumeist ein Bauernvorstoß) würde im Resultat auch eine offene Linie für uns ergeben. Diese Eventuallinie (deren Öffnung nicht in unserer Macht liegt) besetzen wir aber trotzdem und zwar im Vorhinein, mit der Idee, dem Gegner die Befreiungsaktion zu verleiden. Der „mysteriöse“ Turmzug gehört zum eisernen Bestandteil vernünftiger Strategie. Der lernbegierige Adept möge sich darin unentwegt üben, insbesondere auch durch psychologische Bekämpfung des Vorurteils, als ob nur höchste Aktivität eines Turmes würdig wäre. Ich darf wohl behaupten, daß die Verhinderung befreiender Vorstöße viel wichtiger ist, als die Frage, ob der Turm in diesem Moment wirke oder passiv stünde.
Wir geben einige Beispiele.
Weiß Kg1, Tc1, f1, Le2, Sf3, Ba2, b2, d4, e3, f2, g2, h2; Schwarz Kg8, Td7, f8, Lb7, Sf6, Ba5, b6, c6, d5, f7, g7, h7.
Weiß zieht hier (die Stellung ist als Schema aufzufassen, es handelt sich um eine Eröffnungsphase) 1. Tf1-d1 , d.h. er erwartet gelegentliches c6-c5 und will in diesem Fall, nach d4xc5 b6xc5 die c- und d-Linie zum Druck gegen die „hängenden“ Bauern d5 und c5 verwerten. Der „mysteriöse“ Turmzug ist hauptsächlich Sache der Eröffnung. Aber auch im ersten Teil des Mittelspiels spielt derselbe eine bedeutende Rolle. Siehe Diagramm 153.
Ein weiteres (aktuelles) Beispiel findet der Leser in folgendem Partieschluß.
Das Turmmanover Tf8-f6-h6-h8 wirkt hier recht plastisch und wird den Nachspielenden sehr befriedigen.
Der mysteriöse Turmzug, der einen Turm auf eine geschlossene Linie stellt, die uns nur vom Gegner selbst erschlossen werden kann (tut der Gegner dieses aber nicht so steht unser Turm „für nichts“ da), ein solcher Turmzug darf nie geschehen, ohne daß man sich dessen bewußt werde, daß man ein Opfer an Wirkungskraft zu bringen im Begriff stehe. Dieses Opfer geschieht, um einer gegnerischen Befreiungsaktion vorzubeugen oder um eine solche zumindest zu erschweren.
Erkennen wir aber eine vom Gegner geplante Befreiung als unecht an (also als nicht zur Befreiung führend), so wäre es in hohem Grade unökonomisch, vorhin erwähntes Opfer bringen zu wollen. Im Gegenteil, „Man tau!“ (nur zu!). In der vorhin erwähnten Partie Blackburne-Nimzowitsch ist der Unterschied zwischen echten und unechten Befreiungszugen in die Augen springend. Da dieselbe für unsere Auffassung der Prophylaxe auch sonst sehr bezeichnend ist, so wollen wir sie hier bringen.
Das, was wir aus dieser Partie lernen wollen, ist zunächst das Unterscheiden-Können zwischen echten und unechten Befreiungszug. Auch beherzige man die Art, wie Schwarz d3-d4 und später (bis zum plötzlichen Versagen) g4-g5 zu hemmen verstanden hat. Am wichtigsten ist aber für uns folgendes Postulat: Absolute Befreiungszüge kenne ich nicht. Eine Befreiung in wenig entwickelter Stellung erweist sich stets als „unecht“, und umgekehrt, kann ein Zug, der garnicht unter die Befreiungszüge rangiert, bei Überschuß an Tempi zu einem sehr freien Spiele führen.
Man betrachte beispielsweise folgende Stellung (Diagramm 156).
Dieser Zusammenhang war der pseudoklassischen Schule unbekannt, sie kannte nur absolute Befreiungszüge; f7-f5 (in der Aufstellung Weiß Be4, d5 gegen d6, e5) galt ihr als solcher und hielt sie ihn in 80 von 100 Fällen für höchst empfehlenswert. Wir haben die Zahl auf ca. 60 von 100 herabgemindert. Denn selbst nach dem defensiven f2-f3 (nach f7-f5 exf5 gxf5 und nun f2-f3) darf die Kraft des Bauernpaares e5, f5 keineswegs überschätzt werden. Und nun stehen wir plötzlich vor der Ur-Zelle der Hemmungsaktion.