2.2 Die Entstehung (Geburt) der offenen Linie. Auf friedlichem Wege. Durch kriegerisches Vorgehen. Die Angriffsmarke
Aus der Definition der offenen Linie ergibt sich als selbstverständlich, daß die Linie frei wird durch Verschwinden eines eigenen Bauern. Dieses Verschwinden wird auf friedlichem Wege dadurch erreicht, daß der Gegner sich dazu veranlaßt sieht, uns einen gut weil zentral postierten Stein wegzutauschen, worauf ein Bauer wiedernimmt (s. Diagramm 15).
Diagramm 15
Schwarz spielt Lxe3, wodurch er Weiß die f-Linie öffnet
Zu betonen wäre hierbei das Wörtchen zentral: nur selten, und in der Eröffnung gar niemals, werden sie den Gegner durch Seitwärtspostierung einer Figur zu einem linienöffnenden Abtausch veranlassen können. Sie erreichen Ihren Zweck viel eher durch die zentrale Postierung, denn die in der Mitte stehende, nach allen Richtungen hin wirkende Figur wird ja getauscht werden.
Ein weiteres Beispiel zeigt die Stellung der Partie Thomas-Aljechin, Baden-Baden 1925.
Diagramm 15a
Also zentral postieren (und sicher dabei, nicht etwa eine Bauernwalze herausfordernd)! Dadurch wird häufig genug gegnerischen Abtausch nebst Linienöffnung provoziert.
Denken wir uns die Diagrammstellung 15 durch die Züge Lb6 Dd2 0–0 0–0–0 h7-h6? fortgesetzt, so erhalten wir das typische Bild der aktivistischen Linienöffnung.
Diagramm 16
Die Angriffsmarke ist hier h6
Weiß kann dank Bauer h6 zu schnellem Verschwindenlassen seines eigenen g-Bauern gelangen, und deshalb war h6 schlecht. (Als Zeitverlust wäre der Zug dagegen kaum zu verurteilen, denn Schwarz hat die Entwicklung bereits hinter sich, und es ist doch ein Unterschied, ob man nach getaner Arbeit schläft oder während derselben!). Der Aufmarsch gegen h6 (= die Angriffsmarke, so von Tarrasch benannt) ist: h2-h3, g2-g4, g4-g5, nach h6×g5 nimmt dann ein Offizier und Tg1 besetzt die g-Linie, die nunmehr geöffnet erscheint. Zwar ist jetzt ein eigener Offizier im Wege, aber das spielt keine Rolle, der Offizier ist elastisch, eigensinnig ist nur der Bauer und mit dem hat man seine liebe Not, wenn man ihn dazu veranlassen möchte, sich „zu verändern.“
Beispiel 2. Zu Übungszwecken denken wir uns in der Diagrammstellung 16 die Le3 und b6 nicht vorhanden, den h-Bauer auf h7 und den g-Bauern auf g6 stehend. Dann ist g6 die Angriffsmarke und die h-Linie soll geöffnet werden (stets die Nachbarlinie der Angriffsmarke). Der Plan ist h2-h4-h5×g6. Der Anfänger pflegt die Bedeutung der Linie zu überschätzen. Einer zeigte mir mit Stolz eine offene Linie, es waren weder Turm noch Dame auf dem Brette, die hatte er nämlich bereits geopfert. In der Stellung nach h4 muß man zunächst dem hindernden Springer f6 an den Leib rücken, etwa durch Sd5, nachher kann dann h4-h5 ohne Opfer in aller Gemütlichkeit geschehen. - Als letztes Mittel versucht der angegriffene Teil das Vorbeiziehen des Bauern, also auf h5 etwa g6-g5, was aber hier nicht geht, da g5 ungedeckt ist.