2.6 Der Vorposten. Der Angriffsradius. Das Märlein von der Zeitschrift. Womit besetzt man den Vorposten in einer Mittellinie und womit den in einer Randlinie? Der Rollentausch und was dieser beweise

Diagramm 23

c-Linie als Sprungbrett zur a-Linie hin, positionelles Beispiel.

Vergleiche Nimzowitsch-Verbündete Thomas-Aljechin

Diagramm 24

Weiß etabliert einen Vorposten in der d-Linie

Betrachten wir uns Diagramm 24. Weiß hat das Zentrum und d-Linie, Schwarz den das Zentrum observierenden Bauer d6 und e-Linie, sonst steht das Spiel gleich. Weiß am Zuge versuche nun in der d-Linie etwas zu unternehmen. Letzteres erscheint schwierig, da der „gedeckte“ d6 einen Granitblock darstellt. Wollte Weiß, den in Punkt 4 vorgeführten Regeln zu Trotz, durch Td1-d2 und Te1-d1 gegen d6 anrennen, so würden nicht blos die sehr geehrten Leser, nein auch Bauer d6 selbst würde höhnisch auflachen. Also wir wollen uns lieber an die Regel halten und d6 durch gelegentliches e4-e5 zu unterminieren suchen (s. unter Punkt 4). Auch das dürfte sich indes hier als unmöglich erweisen, denn die gegnerische e-Linie wirkt einem intendierten e4-e5 mehr als hinreichend entgegen. Also geben wir die „d-Linie“ als solche auf und begnügen uns mit deren mittelbaren Ausnützung, nämlich mit dem unter Punkt 5 gezeigten eingeschränkten Vorrücken Td1-d4 und später nach a4. Aber auch dieses Manöver ist hier schwächlich, denn der schwarze Damenflügel ist zu kompakt. (Dagegen bei isoliertem a-Bauern vollständig am Platze, späterhin könnte auch der e-Turm auf ähnliche Weise via d-Linie in die a-Linie gebracht werden). Nachdem nun alle Versuche gescheitert sind, fangen wir bereits an, nach einer andern Operationsbasis Umschau zu halten, vollständig zu Unrecht, denn die d-Linie ist hier auszunutzen.

Der Schlüsselzug ist 1. Sc3-d5. Punkt d5 bildet hier der Vorpostenpunkt, Springer d5 nennen wir den Vorposten. Definition: Unter einem Vorposten verstehen wir einen in einer offenen Linie (in feindlichem Lande) postierten gedeckten (durch einen Bauern, natürlich) eigenen Stein, zumeist einen Springer.

Dieser Springer wirkt, gedeckt und gestützt wie er ist, infolge seines Angriffsradiusses äußerst beunruhigend und veranlaßt so den Gegner, durch c7-c6 – geschieht um den Springer zu vertreiben – seine Stellung in der d-Linie zu schwächen. Also wir sagen:

  1. Der Vorposten bildet eine Basis für neue Angriffe.
  2. Der Vorposten provoziert eine Schwächung der gegnerischen Widerstandskraft in der fraglichen Linie.

Nach 1. Sc3-d5 c7-c6 (es geht auch 1. ... Tc8, es gehören aber eiserne Nerven dazu, einen sowohl drohend als sicher postierten „Springer stundenlang“ mitten auf der Nase zu belassen, fällt es ja bereits schwer, eine harmlose Fliege länger als armselige 5 Minuten auf seiner Nase zu dulden) geschieht 2. Sd5-c3 und nun wird Bauer d6 nach gelegentlichem Td2 und Te1-d1 keineswegs mehr hohnlachen ...

Es ist für den Lernenden von Bedeutung zu wissen, daß die Kraft des Vorpostens in dessen strategischer Verbindung mit dem eigenen Hinterlande begründet liegt.

Der Vorposten schöpft seine Kraft nicht aus sich heraus, er leiht sie vielmehr vom Hinterlande, nämlich von der offenen Linie und dem deckenden Bauern. Wollten wir den Sd5 etwa mit einer neuerscheinenden Zeitung vergleichen, so würde Td1 dem hinter dem Unternehmen stehenden Kapital entsprechen; und welche Rolle spielte dann der Bauer e4? Nun, die Rolle der Agrarpartei. Sehen Sie, ein Blatt, das sowohl Kapital als auch eine geschlossene Partei hinter sich hat, ein solches Blatt können wir wohl mit Recht als solid fundiert bezeichnen. – Sollte aber eine der beiden Voraussetzungen fehlen, so verlöre unser Tageblatt (der Vorposten) plötzlich fast alles an Prestige und Bedeutung. Z.B. im Diagramm 24 denken wir uns einen weißen Bauern auf d3 hinzu, die d-Linie wäre also geschlossen (das Kapital erschöpft).

In diesem Fall geschähe 1. ... c7-c6 2. Sd5-c3 und der d-Bauer ist nicht schwach, wie könnte auch jemand schwach sein, der keinen Angriff zugänglich wäre? Oder Diagramm 24 mit weißem Bauern e3 statt e4.

Nun fehlt der Kontakt mit der Agrarpartei. Kommt schmerzlich zur Geltung nach den Zügen 1. ... c7-c6 2. Sd5-c3 d6-d5! und Weiß hat nichts erreicht, während doch bei der Stellung des weißen Bauern auf e4, Bauer d5 gelähmt (rückständig) bliebe, mindestens auf längere Zeit hinaus.

Also zum Vorposten gehören unbedingt die Linie dahinter und der deckende Bauer zur Seite.

In der Stellung der italienischen Partie Weiß Kg1 Ta1 f1 Sc3 Bauern a2 b2 c2 d3 e4 gh2, Schwarz Kg8 Ta8 f8 Le7 Bauern abc7 e5 f6 g7 h7

(man könnte sich noch für beide Teile x Figuren hinzudenken) hat Weiß die f-Linie mit Vorpostenpunkt f5, Schwarz die d-Linie mit Punkt d4. Beide Linien beißen vorläufig auf Granit (auf „gedeckte“ Bauern). Zur Erschütterung genannter Stärke wird ein Springer nach f5 dirigiert, über e2 und g3. Dort angelangt, greift dieser den Punkt e7 an, welcher Angriff durch etwaiges Tf1-f3-g3 noch mehr betont werden kann. Das natürliche ist die Vertreibung des Sf5 durch g7-g6, und damit wäre die strategische Mission des Vorpostens als erfüllt zu betrachten, denn f6 ist nun zu einer Schwäche geworden. Wichtig war hier zu bemerken, daß Sf5 die Basis zu einem neuen Angriff (gegen g7) wurde.

Sehr häufig wird der Vorposten auf dem Vorpostenfelde abgetauscht. Hat der Angreifende richtig gespielt, so ersetzt indes der wiedernehmende Stein den geschlagenen vollauf. Hierbei sind Umwandlungen von Vorteilen an der Tagesordnung, also etwa nach Sf5, Figur nimmt Sf5, e4xf5, erhielte Weiß einen Punkt e4 für Turm oder den 2. Springer und außerdem noch einige Möglichkeiten, nach g2-g4-g5 die g-Linie zu öffnen. Bauer f5 würde hierbei die Angriffsmarke f6 unbeweglich machen helfen (siehe Diagramm 25 und auch Haken-Giese im Partieteil nach 3. Kapitel).

Diagramm 25

Randlinie g. Vorpostenzug Tg6, nicht Sg6.

Der Vorpostenpunkt in einer Randlinie soll durch eine schwerkalibrige Figur besetzt werden. Hier hätten wir es mit einer Randlinie zu tun („Randlinien“ sind a, b, g, h, „Mittellinien“ c, d, e und f). Die Besetzung des Vorpostenpunktes durch einen Springer wäre nur von geringer Bedeutung, denn der Angriffsradius des Sg6 wäre gering (noch geringer wäre dieser freilich im Falle einer h-Linie oder a-Linie). Aber Tg6! ist ausgezeichnet, da hierdurch die Besitzergreifung der bis dato umstrittenen g-Linie in die Wege geleitet wird, oder aber andere Vorteile erreicht werden. (Die Linie war umstritten, denn keinem der beiden Gegner wäre es möglich gewesen, in fraglicher Linie friedlich auf und ab zu marschieren. Nur eben skizzierte Freiheit gewährleistet nämlich den Besitz der in Frage stehenden Linien.) Also gilt es für Weiß einen passenden Punkt zur Turmverdoppelung zu finden (der Punkt des Archimedes, der dann die Welt aus den Fugen bringen wollte; ja, wenn er nur den Punkt fände, wo er ansetzen könnte!). Suchen wir nun noch einen Punkt und wir werden ihn finden. 1. Tg1-g2? Tg8xg2 2. Sh4xg2 Th8-g8 und Schwarz hat die g-Linie. 1. Tg1-g4? Tg8xg4 2. h3xg4 Th8-g8 3. Sh4-g6 und Weiß wird seinen rückständigen g-Mehrbauern nun schwer zur Geltung bringen. 1. Tg1-g6! (Vorposten) 1. ... Tg8xg6 (sonst Td1-g1 mit erreichter Turmverdoppelung) 2. h5xg6 mit einem Riesenfreibauern und der Möglichkeit, von Tg1-g4-h4 nach vorhergegangenem Sf3. Also die weiße g-Linie wird nach 2. h5xg6 geschlossen, es ersteht aber ein Freibauer aus der Asche der Linie, nebst Angriffsmöglichkeiten in der h-Linie. Ein Beitrag zur Umwandlung von Vorteilen im Falle des Abtausches der Vorpostenfigur, siehe oben.

Verweilen wir einen Moment bei Diagrammstellung 25, so kommen wir nach 1. Tg1-g6 Tg8xg6 2. h5xg6 Th8-g8 3. Td1-g1 einem charakteristischen Rollentausch auf die Spur: vor geschehenem Tg8xg6 stützte nämlich der weiße h-Bauer den weißen Turm g6, nach vollzogenem Abtausch stützt ein weißer Turm den nun nach g6 avancierten h-Bauern. Dieser von Dankbarkeit und schöner Gesinnung triefende Fall beweist auch, daß zwischen der g-Linie als solche und dem den Vorpostenpunkt deckenden Bauern (hier Bh5) strategische Verbindung vorhanden sei.

Wir beschließen dieses Kapitel mit Vorführung eines Partiebeispiels, das übrigens rein pädagogische (nicht belustigende) Zwecke verfolgt.

Diagramm 26