Steinitz, Tarrasch, ich und … Alapin!

Von A. Niemzowitsch, Riga.

Das ist in kurzen Worten die Geschichte der Schachstrategie von Steinitz bis heute.

Steinitz hatte seinerzeit eine neue Welt im Schach erschlossen, die von ihm gegebenen neuen Begriffe wie schwacher Punkt, hôle Angriffsmarke etc., stellte sich bald als äußerst anregend und fruchtbar heraus. Wie er eine nur ganz leise und kaum wahrnehmbar angedeutete Schwäche im feindlichen Lager, z. B. des Bauers e4 in der Steinitz-Verteidigung des Spaniers, zu erspähen wußte, und wie sich dieser anscheinend stolze Zentrumsbauer langsam aber sicher in ein, für alle sichtbares lahmes Angriffsobjekt verwandelte, das war und blieb schlechtweg wunderbar!

Aber Steinitz war zu überlebensgroß. Es war schwer, von seinen Zeitgenossen zu verlangen, daß sie sich seine Ansichten zu eigen machen sollten. Wie konnten sie auch? Der Bauer e4 war eben doch ein Zentrumsbauer und wer überließe gern seinem Gegner einen solchen?

Oder Steinitz schlug als Nachziehender in der schottischen den Bauer e4 (e2-e4 e7-e5 Sg1-f3 Sb8-c6 d2-d4 exd Sxd4 Dd8-h4!! Sd4-b5 Dh4xe4+) die Folge war: die Dame wird herumgehetzt, der König muß die Deckung des Bauers c7 übernehmen, also die Rochade verlieren und die Türme blieben unvereinigt (dislozirt). Jeder andere würde hundertmal straucheln, nicht so Steinitz.

Er hatte sein eingeschränktes aber festes Zentrum c7, d6 und dieses war und blieb seine Gewichtschance (selbst für den Fall, daß er seinen Mehrbauer irgendwo an der Seite zurückgeben mußte). Und die vielen Tempoverluste mit der Dame? Da hatte er auch ein ganz eigenes System, ich nenne es „die Selbstverteidigung der Dame“, wie er ja auch später „die Selbstverteidigung des Königs“, siehe Steinitzgambit einzuführen wußte. Er zieht nämlich die angegriffene Dame stets auf solche Felder, daß im Falle eines weiteren Angriffes gegen die Dame, die vom Gegner gewonnenen Tempi später zurückgegeben werden müssen; oder einfach ausgedrückt: Die angegriffene Dame verlockt die angreifenden Figuren auf ungünstige Plätze.

Es war eben nichts für einen Mitteleuropäer! — — — Und als dann Tarrasch kam und den Leuten sagte: Du sollst keinen Bauer in der Eröffnung rauben, weil du ein unbequemes Spiel bekommen könntest, du sollst das Zentrum „nicht aufgeben“, weil dein Gegner ein freies Spiel erlangen würde (ob aber auch ein gutes? A. N.) Du sollst keinen Bauernzug auf der Königsseite tun, im Falle du dort in der Verteidigung bist, weil der Gegner eine Angriffsmarke hätte, was dir nicht angenehm sein wird, als Tarrasch so oder ähnlich sprach, da flogen ihm alle Herzen zu. — Er hatte eben die schwachen Punkte des Publikums entdeckt. Er bot ihm Bequemlichkeit, schön serviert unter dem Namen Schachwissenschaft.

— — — Und so vergingen viele Jahre und Tarraschs Ruhm als Präzeptor blieb unangetastet.

In der Stille aber lebte und forschte einer, der die Schachwahrheit liebte und ihre, ewig gleichbleibenden Gesetze in schwerem Kampf ihr abzulauschen bestrebt war. Und dieser — war ich.

Und was ich das Glück hatte zu finden, waren streng formulirte Gesetze über Schachstrategie zu einer harmonischen Reihe ausgebaut.

Nun erst glaubte ich mich berechtigt, das Feldgeschrei gegen Tarrasch' „Bequemlichkeits-Wissenschaft“ — zu erheben.

Dieses tat ich zunächst — wenn auch nur andeutungsweise — in einem Artikel: „Neue Gedanken über modernes und unmodernes Schach“ („Wiener Schachzeitung“, S. 73 bis 84). Ich erwähnte hierin ganz kurz die Gesetze, die ich gefunden, betreffend die offene Linie und die Bauernketten. Ausführliche Erläuterung hatte ich mir für einen größeren Aufsatz, der auch in der „Wiener Schachzeitung“ erscheinen sollte („Das neue System“) vorbehalten.

Dieses war die Lage der Dinge in punkto Schachstrategie.

Und nun kommt etwas Scherzhaftes.

Eines schönen Tages tritt mir jemand entgegen mit dem Versuch, meine Gesetze durch — — Varianten!!! zu widerlegen!!!

Aber wenn Herr Alapin, denn dieser war der Heros, glaubte, daß ich und meine Gesetze tödlich getroffen sein würden ... durch Varianten, willkürlich ohne jeden verbindenden Grundsatz zusammengewürfelte Varianten, so kann man nur staunen über die Naivität dieses Varianten-„Künstlers“. Selbstredend würde ich selbst in dem Falle nicht reagieren, wenn die Varianten an sich von Wert wären, denn: Grundsätze lassen sich eben nicht durch Varianten, sondern nurdurch grundsätzliches Eingehen widerlegen. Überdies müßte der Ton, in dem sich der Herr Verfasser gefällt, durchaus im Rahmen wohlgesitteter parlamentarischer Formen bleiben.