Es lebe der Optimismus und die ... Morgengymnastik!

Drei Monate vor Beginn des Karlsbader Turniers entschloß ich mich dazu, meine müden Lebensgeister durch systematisch betriebene Morgengymnastik neu beleben lassen zu wollen. Da ich in Kopenhagen ansässig bin, fiel meine Wahl eines entsprechenden Lehrers naturgemäß auf Kapitän J. P. Jespersen, den willensstarken Vorkämpfer der Müllerschen Morgengymnastik. Es gelang meinem Lehrer, mich alten Pessimisten und Zweifler zu einem gesunden Optimismus zu bekehren. Mit der zunehmenden Elastizität der Gelenke wuchsen zusehends auch mein Lebensmut und meine Lebensfreude. Während ich früher fest davon überzeugt war, daß der „Zufall” mir feindlich gesinnt sei, bin ich heute so weit, daß ich in ihm einen Verbündeten sehe, der es gut und ehrlich mit mir meint.

Wenn ich nun meine in Karlsbad gespielten Partien nachziehe, so bin ich in der Lage, eine klar umrissene Kurve eines aufsteigenden „Optimismus” zu ziehen. In der ersten Partie, da glaubte ich noch deutlich an die bösen Geister, die mein Verderben wünschten.

In der 3. Runde hatte ich Bogoljubow zu bekämpfen, und in dieser Partie, die wir nachstehend bringen, halten Pessimismus und neu erwachter Optimismus sich ungefähr die Waage. Wir lassen nun die Partie folgen:

In der IV. Runde ließ ich Canal trotz überlegener Stellung mit Remis entkommen, und in der V. Runde verdarb ich gar eine eklatant überlegene Stellung durch einen einzigen Zug so gründlich, daß ich das Spiel trotz stärkster Gegenwehr nicht mehr zu halten vermochte. Aber diese Unglücksfälle deprimierten mich fast gar nicht, und es kostete mich keine allzugroße Überwindung, meinem Besieger, Mr. Yates, aufrichtig zu gratulieren. Es lebte also schon damals, mir unbewußt, ein Vertrauen an meinen Stern in meiner Brust … Und als ich gar in der 8. Runde durch einen Glücksfall eine für mich verlorene Stellung (gegen Euwe) gewann, da bekam dieses Vertrauen an meinen Stern Schwingen, und ich lieferte dann in der 10. Runde nachfolgendes, von A-Z kühn und unternehmungslustig geführtes Spiel:

In den nächstfolgenden 7 Runden (11. bis 17. Runde inkl.) erreichte ich 5 Punkte (3 Siege bei 4 Remisen), blieb aber trotzdem hinter den Führenden zurück. Dafür durfte ich mich mit dem Bewußtsein trösten, daß es mir gelungen sei, Partien von kurzer Spieldauer zu leisten, und daß ich somit die Chance hätte, im bevorstehenden Finish mein Äußerstes hergeben zu können. Spielmann dagegen sei sehr ermüdet, sagte ich mir, denn er habe einige achtstündige Kämpfe hinter sich; und Capablanca? Nun, Capa sei nicht einzuholen, er müsse erster werden.

Ist jemals schon der Versuch gemacht worden, eine Psychologie der kurzen Kämpfe zu schreiben? Ist die voraussichtliche Dauer eines Kampfes überhaupt ein Ding, das sich, sei es durch den Intellekt oder den Instinkt, dirigieren ließe? Wir glauben, diese letztere Frage bejahen zu können, es ist u. E. durchaus nicht unmöglich, die Spieldauer zu beeinflussen. Aber hierzu gehört vor allem Mut und Entschlußfreudigkeit. In einer Situation, in der man eine kleine Gewinnchance hat, muß man tatkräftig zur „Waage“ schreiten und taxieren: „Ist die Chance groß genug, um eine Fortsetzung der Partie mit daraus resultierender Ermüdung gerechtfertigt erscheinen zu lassen?“

Und dieser Entschlußfreudigkeit, die natürlich eine Folge meiner Morgengymnastik war, habe ich es in erster Linie zu verdanken, daß meine Partien in dem in Frage kommenden Turnierabschnitt schnell und schmerzlos verliefen. Aber ich hatte auch den Mut, mich zu den von mir begangenen Fehlern zu bekennen, um hieraus sodann die Konsequenzen zu ziehen.

Mit der 18. Runde nahm das Finish seinen Anfang. Meine Chancen, erster zu werden, schienen gering, denn nicht nur war ich um einen halben Punkt zurückgeblieben (ich hatte 11½, Capa und Spielmann je 12 Punkte), ich hatte außerdem auch noch die schwersten Gegner zu bekämpfen. Nämlich die Großmeister Vidmar, Spielmann, Maróczy und Tartakower. Capa hatte dieselben Gegner wie ich, aber statt Tartakower durfte er Colle antreten sehen. Und Spielmann gar hatte nur zwei Großmeister zu erledigen, die anderen zwei Gegner gehörten der Mittelklasse an.

Von den vier Partien erreichte ich in lauter schweren Kampfpartien 3½ Punkte. Capa (verlor gegen Spielmann, remisierte mit Vidmar) und Spielmann (Verlor gegen mich, remis mit Mattison) erzielten nur je 2½. Und so stand ich mit 15 Punkten als Turniersieger da, mit einem halben Punkte Vorsprung vor meinen zwei Hauptrivalen, Capablanca und Spielmann, die sich mit 14½ Punkten in den 2. und 3. Preis teilten.

Jede meiner letzten vier Partien bedeutete einen Sieg meiner neuerworbenen optimistischen Einstellung: Vidmar hat es seit jeher verstanden, mir aus glatt verlorenen Stellungen zu entschlüpfen, ich kämpfte also unter psychologischem Druck. Diesen Druck wußte ich zwar nicht restlos abzuschütteln, immerhin, die Intensität, mit der ich mich gegen denselben auflehnte, erwies sich als zum Siege ausreichend! — Spielmann ist in der Kunst des Lavierens wenig bewandert: mit treffsicherem Instinkt (das Symptom für vor sich gegangene Ertüchtigung!) wußte ich ihm eine Stellung vorzusetzen, in der besagtes Lavieren seinerseits unerläßlich schien. An diesem „Hic Rhodus, hic salta“ mußte er naturgemäß scheitern. — Gegen Maróczy wagte ich sehr viel (1. e4 e6 2.d4 d5 3. exd5 exd5 4. Ld3 Ld6 5. Se2; an dieser Stelle zog ich Dh4). Aber es zeigte sich alsbald, daß ich nicht mehr gewagt hatte, als ich zu wagen berechtigt war, denn ich erzielte Damentausch und Vorteil der zwei Läufer. Wenn die Partie doch nur remis ward, so hatte ich dies nur einer Unachtsamkeit meinerseits zu verdanken. — Tartakower ließ sich in der Eröffnung überspielen. Um nun die allerbeste, die gegnerische Eröffnungsanlage ad absurdum führende Widerlegung zu finden, hätte ich „stundenlang“ grübeln müssen. Kurz entschlossen (die neuerworbene Entschlußfreudigkeit!) wählte ich daher eine andere, für mich leicht spielbare Variante, die aber an die Verteidigungskunst meines Gegners die größten Anforderungen stellte. Tartakowers Zähigkeit genügte nicht den an sie gestellten Anforderungen: nach sechsstündiger schwerer Verteidigung beging er einen Fehler und verlor, so die Richtigkeit meines psychologischen Kalküls überzeugend dartuend.

So hat das zwischen zwei Systemen geschlossene Bündnis sich als für mich äußerst segensreich erwiesen. Wenn „Mein System“ von einem Meister ins Treffen geführt wird, der es verstanden hat, seine Kämpferqualitäten durch S. P. Müllers System zu stärken, so dürfte dieser Verdoppelung (ähnlich etwa wie der Turmverdoppelung) nicht viel entgegenzusetzen sein!

Wir bringen nun die Partie aus der 18. Runde.

Bei der Analyse der nachstehend gebrachten Partie schlagen wir ein anderes Verfahren ein, wir versuchen, die Sache mit den Augen des besiegten Gegners zu sehen. Das audiatur et altera pars wird auch in diesem Falle nicht verfehlen, das behandelte Problem in helles Licht zu rücken.

Schachlich mußte Tartakower seinen Verlust als unverdient empfinden: er hatte die Schwierigkeiten der Eröffnung gut überwunden und in stundenlanger Arbeit eine zähe Stellung aufgebaut; da ereilt ihn das Mißgeschick, er begeht — infolge Übermüdung — einen schweren Fehler und muß nach wenigen Zügen aufgeben. Soweit der schachliche Befund, nun aber die psychologische Seite des Kampfes!

Tartakowers Gegner kam mit einer Verspätung von 22 Minuten ans Brett, spielte aber trotzdem mit größter Unbefangenheit: komplizierten Varianten keineswegs aus dem Wege gehend, wußte er doch stets die Züge zu finden, die große Angriffsenergie ausstrahlten, ohne die eigene Stellung zu gefährden. Einen solchen Gegner vor sich zu haben, dies wirkt lähmend. Jeder Kämpfer wird dies bestätigen: wir fürchten nur die gegnerische Kraftquelle, die wir nicht begreifen; ein Gefühl der Sicherheit, das vom Gegner ausstrahlt, verwirrt uns nur dann, wenn wir dieses Sicherheitsgefühl in seinen Motiven nicht erfassen können. Wir fühlen uns in solchem Falle hilflos und fangen an, Gespenster zu sehen.

Hätte Tartakower die wahren Gründe meines Zuspätkommens gekannt (ich war zu spät aufgestanden und wollte meine Morgengymnastik um nichts in der Welt versäumen), so hätte er vielleicht gelächelt (obgleich wohl ohne ausreichenden Grund), und dieses Lächeln hätte das Furchtgefühl, an dem er während der Partie laborierte, erstickt. Aber er wußte es nicht, und die Schnelligkeit und Sicherheit, mit denen ich meine Züge ausführte, ließen ihn so an übernatürliche Kräfte seines Gegners glauben. So erscheint also Tartakowers Fehler psychologisch begründet. — Wir schreiten nun zur Vorführung der Partie.

Quelle: Denken und Raten; 2. Jahrgang 1929, Nr. 39 Seite 1241-1243, Nr. 45 Seite 1433-1435, Nr. 49 Seite 1561-1563, Nr. 51 Seite 1625-1627; 3. Jahrgang 1930, Nr. 3 Seite 89-91