4. Kapitel - Wie man starke Punkte systematisch überdeckt und wie man schwache Bauern bzw. Punkte loszuwerden sucht

Ein kurzes Kapitel, das hauptsächlich dazu dienen mag, die verschiedenen Formen zu beleuchten, unter denen die „Überdeckung“ auftreten kann. Der Überdeckung Sinn und tiefere Bedeutung haben wir bereits auf Seite 1.3 Meine neuartige Auffassung des Positionsspiels als solches zu erläutern versucht. Wir wiederholen deshalb nur in aller Kürze, daß der zwischen dem starken Punkt und den Überdeckern herzustellende Kontakt beiden Teilen zugute kommen müsse: dem „Punkte“, weil die solchermaßen zur Anwendung gelangende Prophylaxe die denkbar größte Sicherheit gegen etwaige Angriffe gewährt; den Überdeckern aber, weil der „Punkt“ ihnen so zu einer Energiequelle wird, aus der sie dauernd neue Kräfte zu schöpfen vermögen.

Die Überdeckung stellt offenbar ein Manöver dar, das mit dem Positionsspiel eng verwachsen ist und seinem ganzen Wesen nach auch sein muß. Nichtsdestoweniger lassen sich bereits in den „Elementen“ Spuren der Überdeckung nachweisen. Beispielsweise in der offenen Linie. Weiß Td1, Sc3, Be4; Schwarz Bc7, d6. Der Vorpostenspringer (nach Sc3-d5) soll, wie wir auf Seite 2.6 Der Vorposten. Der Angriffsradius. Das Märlein von der Zeitschrift. Womit besetzt man den Vorposten in einer Mittellinie und womit den in einer Randlinie? Der Rollentausch und was dieser beweise ausdrücklich hervorgehoben hatten, sowohl durch den Turm als auch durch den Bauern gedeckt sein. Was bedeutet dieser Zwang aber anderes, als die Notwendigkeit, den strategisch bedeutsamen Vorposten zu überdecken!

Auch auf dem Gebiete der Bauernketten bildet die Überdeckung ein mit Vorliebe anzuwendendes Stratagem. Man spiele nur die auf Seite 1.3 Meine neuartige Auffassung des Positionsspiels als solches gebrachte Partie Nimzowitsch-Giese nach und beachte hierbei ganz besonders, wie die Überdeckung hier nicht einmal einer Basis, die uns ja höllischen Respekt einflößt, sondern vielmehr bloß einem bescheidenen „Anwärter“ galt (wir hatten Be5 überdeckt, weil wir mit einem eventl. nicht zu umgehenden d4xc5 rechnen mußten; e5 würde dann zur Basis avancieren).

Die wunderbare Vitalität der Überdecker sei hier noch an zwei weiteren Beispielen demonstriert.

I.
II. Diagramm 178

Soviel über die Überdeckung der Basis. Von Belang ist auch die Überdeckung folgender Punkte:

a) der Mittelpunkte.

Daß eine gewohnheitsmäßige Nichtbeachtung des zentral gelegenen Kriegsschauplatzes zu tadeln ist, haben wir bereits bei einer früheren Gelegenheit betont. Hier ist es uns eher um ein Detail zu tun oder genauer: um die Beurteilung einer ganz bestimmten, für die hypermoderne Spielweise typischen Situation. Wie männiglich bekannt, weiß der Hypermodernist dem Impulse, das Zentrum durch Bauern zu besetzen, trefflich zu widerstehen; allerdings nur bis zur ersten sich bietenden günstigen Gelegenheit. Bietet sich eine solche, ja, dann wird alle fromme Scheu beiseite gelassen und die Bauern, von den fianchettierten bishops unterstützt, brechen wild hervor, besetzen die Mitte und suchen den Gegner zu erdrücken. Gegen dieses drohende Übel bildet nun, wie gesagt, die Überdeckung gewisser Mittelpunkte ein ganz probates, nicht warm genug zu empfehlendes Mittel. Betrachten wir zunächst folgenden Anfang der Partie Réti-Yates, New York 1924.

Diagramm 179

Diese von mir bereits in den „Sonderheften“ von Kagans Neueste Schachnachrichten 1924 gezeigte Spielweise fand damals nur geringen Anklang, da die Idee der Überdeckung der Schachwelt völlig unbekannt war. Heute ist das Verhältnis ein anderes.

Bei meiner Rundreise im Herbst 1926 hatte ich übrigens des öfteren Gelegenheit, Db8 mit ähnlicher Tendenz wie in der vorstehend vorgeführten Partie zu ziehen.

Da die eine von diesen Partien einen äußerst lehrreichen Verlauf nahm, so glaube ich sie meinen freundlichen Lesern nicht vorenthalten zu können.

Partie 33

b) Die Überdeckung der Mitte als Schutzmaßnahme für den eigenen Königsflügel.

Der im nachfolgenden näher zu erörternde Fall unterscheidet sich von dem unter a) behandelten durch seine Tendenz und wird hier als selbständiges Manöver, nicht aber als Unterabteilung des vorigen Falles behandelt.

Die auf Seite 1.6 Worin hat das Leitmotiv der wahren Strategie zu bestehen? zu findende Besprechung der Diagrammstellung 139 zeigt einen für die Gruppe b) bezeichnenden Fall. Lehrreich in diesem Sinne war auch unsere Partie Nr. 13. In genannter Partie war nämlich nach dem 13. Zuge folgende Stellung entstanden (siehe Diagramm181):

Diagramm 181

Ganz besonders interessant in unserem Sinne erscheint aber das in nachfolgender Beratungspartie gewählte Manöver, siehe Diagramm 182.

Diagramm 182

Über die weiteren Schicksale des Turmes d8 findet der freundliche Leser unter Partie 34 ausführlichen Bericht (am Schluß dieses Kapitels). Und er, der Leser, möge hierbei ganz besonders darauf achten, wie die dem Überdecker als solchem innewohnende Kraft auch diesmal nicht verfehlt hat, sich wunderbar zu manifestieren. Wir könnten noch viele „Punkte“ vorführen, die der Überdeckung würdig sind, wollen uns aber auf die hier gebrachten wenigen Beispiele beschränken. Bevor wir uns dem nächsten Stratagem widmen wollen, müssen wir aber resumierend nochmals hervorheben: nur strategisch wertvolle Punkte soll man überdecken, nicht aber einen schwächlichen Bauern oder einen auf schwachen Füßen stehenden Königsflügel etc. Das Überdecken ist nämlich keinesfalls als Akt christlicher Milde und Barmherzigkeit aufzufassen: die Offiziere überdecken einen Punkt, weil sie sich von dem solchermaßen hergestellten Kontakt strategische Vorteile versprechen, man suche also Verbindung mit starken Punkten herzustellen. Ein schwacher Bauer ist nur in einem einzigen Ausnahmefalle dazu berechtigt, Überdeckung zu beanspruchen, das ist, wenn er als Amme für einen im Wachstum begriffenen Riesen fungiert. Beispielsweise Weiß Bd4 und e5, Schwarz Be6 und d5. Die Kettenbasis d4 ist zwar schwach, fungiert aber als Amme für den strategisch bedeutsamen Be5, also erscheint Überdeckung von d4 angebracht.

Damit verabschieden wir uns vom Stratagem der Überdeckung.

Wie man schwache Bauern los wird

Nicht von der Art und Weise, wie man sie los wird, soll hier die Rede sein, sondern vielmehr nur davon, welche Bauern eben angedeutete wenig liebevolle Behandlung verdienen. Die Situation ist immer die gleiche: ein sonst gesund zu nennender Bauernkomplex, der aber einen schwächlichen Komponenten aufzuweisen hat. Je nach der Art des Schwächezustandes unterscheiden wir 2 Fälle:

  1. die Schwäche des Bauern ist offensichtlich
  2. die Schwäche würde erst nach erfolgtem (eigenen oder feindlichen) Bauernmarsch als solche hervortreten.

Zu jedem dieser beiden Fälle geben wir je ein Beispiel.

Diagramm 183

Unter b bringen wir ein Endspiel aus der Jugendzeit Tarraschs, siehe Diagramm 183a.

Diagramm 183a

Während Fall a an den Spieler keine größeren Anforderungen stellt, ist die richtige Handhabung des unter b vorgeführten strategischen Instruments eine äußerst difizile; sie erheischt vor allem eine ziemlich genaue Kenntnis der verschiedenartigen Formen, unter denen ein Vorgehen einer kompakten Bauernmasse - insbesondere an einem Flügel - sich abzuspielen pflegt. Diesem Vorgehen nebst allen seinen Konsequenzen haben wir aber in meinem Buche viele Seiten gewidmet und daher dürfen wir den freundlichen Leser getrosten Mutes seinem, wie wir hoffen, nicht minder freundlichen Schicksal überlassen. Nur möge er noch im Auge behalten, daß die strategisch angezeigte Notwendigkeit, einen eigenen störenden Bauern loszuwerden, sich genau so gut im Falle eines geplanten eigenen Vorgehens (nicht nur eines feindlichen, wie im Falle des Diagramm 183) ergeben kann: wann das räudige Schaf zu entfernen sei, ob vor Beginn der Operation (= kompakter Bauern-Vormarsch) oder während derselben: diese Frage ist entschieden von Fall zu Fall zu lösen.

Wir lassen nun eine Partie, die die Überdeckung illustriert, folgen und beginnen dann ein neues Kapitel.

Partie 34

Illustriert neben der Überdeckung auch das Problem des isolierten Damenbauern.

Eine meiner Lieblingspartien.