5. Kapitel - Das Lavieren gegen eine feindliche Schwäche. Der kombinierte Angriff an beiden Flügeln.
Besteht zwischen eben angedeuteten zwei Stratagemen eine gewisse Wahlverwandtschaft?
1. Aus welchen logischen Bestandteilen ist das Stratagem des Lavierens gegen eine Schwäche zusammengesetzt? Der Begriff der „Achse“, um die die Lavierungsoperation sich dreht.
Ich möchte die nun folgende Analyse dadurch einleiten, daß ich versuche, für die zu behandelnde Operation ein Schema aufzustellen. Den Verlauf einer Lavierungsaktion stelle ich mir nämlich etwa wie folgt vor: Eine gegnerische Schwäche kann auf mindestens zwei verschiedene Arten angegriffen werden, jeder dieser Angriffsversuche würde aber eine genügende Parade finden. Um die feindliche Schwäche aber doch zu erobern, greifen wir sie unter Ausnutzung einer in gewissen Terrain-Verhältnissen begründeten größeren Bewegungsfreiheit der Reihe nach auf verschiedene Weise an (Lavierungsspiel) und nötigen so die gegnerischen Figuren in unbequeme Deckungsstellungen; als Folge hiervon ergibt sich ein Deckungshemmnis oder dergl, und die „Schwäche“ erweist sich als unhaltbar.
Wie wir aus obigem Schema ersehen können, wäre es also ganz verfehlt, das Lavieren als ein zweckloses Hin- und Herziehen zu bezeichnen; im Gegenteil, jede Lavierungsaktion setzt sich ein klar vorgezeichnetes Ziel, hat die Eroberung einer ganz bestimmten Schwäche im Auge. Die Wege, die zu dieser Eroberung führen, sind allerdings komplizierter Natur.
2. Das Terrain. Das Gesetz des Lavierens. Der Platzwechsel.
Das Terrain, auf dem die Lavierungsoperation vor sich geht, muß, soll die Sache gelingen, irgendwie stark ausgebaut sein. Das charakteristische liegt darin, daß die verschiedenen Truppenverschiebungen immer über ein ganz bestimmtes Feld (oder eine Demarkationslinie) führen. Beispielsweise im Diagramm 185.
Hier ist es Punkt d5, den die weißen Figuren besetzen wollen, um von dort aus weiter zu manövrieren. Punkt d5 wäre hier demnach als befestigte Zwischenstation anzusprechen, und es wäre daher nur recht und billig, wenn wir ihn als Achse bezeichnen, um die sich die ganze Lavierungsoperation dreht. Alles Lavieren vollzieht sich hier nämlich im Zeichen des befestigten Punktes d5; die Figuren streben alle nach d5 hin, selbst Td1 tut es, über die störende Kulisse hinweg. Das Gesetz des Lavierens verlangt es übrigens, daß d5 hier durch verschiedene Figuren der Reihe nach besetzt wird, denn dies wird stets neue Drohungen schaffen und so den Gegner genieren helfen. Das Verhältnis zwischen den weißen Figuren einerseits und der Achse d5 andererseits, entspricht übrigens ganz und gar dem von uns im vorigen Kapitel erfaßten „Kontakte“, wie ein solcher zwischen Überdeckern und einem strategisch wertvollen Punkt bestand. Daß die Figuren den Kontakt zu d5 anstreben, spricht deutlich für die Stärke von d5. Man beachte auch das Manöver des Platzwechsels (Diagramm 185), nämlich die weiße Zugfolge Se3, Dd5, Sc4. Neben der abwechselnden Besetzung des „Achsenpunktes“, bildet eben vorgeführtes Manöver eine weitere wertvolle Waffe, die dem Lavierenden gar trefflich zu statten kommen kann. Wir registrieren nun an der Hand von Beispielen einige der typischsten Lavierungsfälle.
a) Eine Bauernschwäche, die bald von der (7.) Reihe, bald von der Linie aus beschossen wird.
Die „Achse“ ist hier in den Linien e7-h7 und h6-h8 zu erblicken. Der lernbegierige Adept suche zu erkennen, weshalb der Frontwechsel des 34. Zuges nicht eher vorgenommen darf.
Viel komplizierter ist nachstehend skizzierter Fall.
b) Zwei Bauernschwächen, hier c3 und h3. Der Achsenpunkt, um die sich die gegen h3 gerichtete Aktion dreht, erscheint bedroht; wird aber doch gerettet, und zwar durch eine rechtzeitig einsetzende Massage des schwachen Bauern auf der anderen Seite des Hauses, nämlich des Bauern c3. So sehen wir also die beiden getrennten Kriegsschauplätze miteinander logisch verbunden.
Beispiel Kalaschnikow-Nimzowitsch, Diagramm 187.
c) Der König als „Schwäche“. Als Terrain fungieren zwei Treibmöglichkeiten, als Achse eine - Demarkationslinie.
3. Das kombinierte Spiel an beiden Flügeln, bei vorläufig noch fehlenden oder doch verdeckten Schwächen.
Siehe Diagramm 189. Eine logische Analyse ergibt folgenden Befund. Der Bauer c5 ist - bei der hier herrschenden Unsicherheit der Läuferpostierung auf f2 - als ausgesprochene Bauernschwäche aufzufassen. Dagegen kann ich mich unter keinen wie immer gearteten Umständen damit einverstandenerklären, die Bauernmasse g3, h3 als „Schwäche“ anzusprechen; und zwar namentlich aus dem Grunde, weil es hier - am Königsflügel - an „Terrain“ gebricht. Was nun geschah, wird auf seinen „Lavierungsinhalt“ seziert.
Der Sinn der hier zur Anwendung gelangten Strategie erhellt aus folgendem, für alle einschlägigen Fälle brauchbaren Schema: Wir lavierten zunächst gegen die offensichtliche Schwäche (c5). Auf dem Wege des Zugzwangs (mit einer kleinen Beimischung von Drohspiel) gelang es uns solchermaßen den Gegner zu einer „Kraftentfaltung“ (h3-h4) zu veranlassen. Diese führte aber, wie in der Natur der Sache liegend, nur dazu, daß die vor dem geschehenen h4 noch latent gewesene Schwäche, zu einer eklatanten und nunmehr leicht angreifbaren ward. Wir resümieren: das Spiel an beiden Flügeln basiert des öfteren darauf, daß man gegen den einen Flügel bzw. dessen ausgesprochene Bauernschwäche kämpft, dadurch aber den anderen gegnerischen Flügel aus dessen Reserve hervorlockt; dadurch werden neue Schwächen (am „Reserveflügel“) geschaffen und damit ist das Signal zu einem systematischen Lavieren gegen zwei Schwächen (à la Kalaschnikow-Nimzowitsch) gegeben.
Dies ist die Regel. Als - interessante - Ausnahme von dieser Regel möchte ich den Fall hervorheben, da man so tun darf, als ob die Klarlegung der Schwäche am anderen Flügel bereits erfolgt ist. Nachstehend ein Beispiel für oben angedeutete Klarlegung.
In der Diagrammstellung 190 beeilte sich Schwarz damit, die Klarlegung herbeizuführen,
Im Diagramm 191 wird eine elegante Mattdrohung nur als Instrument benutzt, um ein den gegnerischen Damenflügel schwächendes Manöver mit Tempogewinn anzubringen.
(siehe Teichmann-Nimzowitsch am Schluß dieses Kapitels).
4. Das Lavieren unter erschwerenden Umständen. (Das eigene Zentrum ist schutzbedürftig.)
Zum Schluß geben wir noch ein von echtem Lavierungsgeist getragenes Spiel. Siehe Diagramm192. Die eingeengte Königsstellung bildet hier eine eklatante Schwäche. Als solche darf auch Bd6 gelten. Aber die eigene Schwäche auf e4 legt dem Anziehenden eine gewisse Reserve auf. Das gegen die Schwäche d6 zielende Terrain ist, um es gleich zu sagen, wenig elastisch: Bd6 ist nur durch Td1 und von der Schräge aus angreifbar. Etwas mannigfaltiger erscheinen die Aufmarschmöglichkeiten am Königsflügel (T und D können jederzeit die h- und g-Linie miteinander austauschen). Diese eben gezeigten, nicht gerade imponierenden Möglichkeiten zur Basis einer wirkungsvollen Operation zu machen, erfordert hohe Meisterschaft. Lasker bekundete sie wie folgt:
Die Laskersche Spielführung wirkt hier imponierend: wie er es versteht, trotz der geringen Mannigfaltigkeit der zu Gebote stehenden Drohspiele, das ganze Brett zu beherrschen und die eigene Schwäche in ihrer Bedeutung fast völlig auszuschalten, ist bewundernswert. Der lernbegierige Adept aber lerne hieraus: Die Mannigfaltigkeit der vorhandenen Angriffsobjekte (= feindlichen Schwächen) kann die fehlende Mannigfaltigkeit an Drohspielen bis zu einem gewissen Grade kompensieren.
Es folgen nun Partien und Schlußspiele.