Partien die ein Gesicht haben
(Charakteristische Partien)
Von A. Nimzowitsch.
Gut gespielten Partien muß, wie dies auch bei guten Büchern der Fall ist, ein vorbestimmter Plan, wie wir das vorläufig nennen wollen, zu Grunde liegen. Bei Büchern—gemeint sind Werke der erzählenden Literatur — kann angedeuteter Plan in einer Art von Behauptung bestehen, die durch die Ausführungen im Buche glaubhaft gemacht werden soll. Handelt es sich indes noch dazu um ein wirklich bedeutsames Buch, so darf genannte „Behauptung“ nicht etwa willkürlich konstruiert sein. Denn nach letzterem Rezept arbeiten etwa die „Dichter“ der französischen Ehebruchsstücke. Nein, die „Behauptung“ (in Skandinavien würde man sagen: die Meinung) muß irgend wie von innerem Erleben erfüllt sein. Als Beispiel will ich nur „Tonio Kröger“ anführen. In dieser wundersam ergreifenden Novelle schildert Thomas Mann den seelischen Zwiespalt eines Mannes, der, wie schon der Name besagt, zur Hälfte einer Künstlerfamilie, zur andern Hälfte aber einem alten kaufmännischen Patriziergeschlecht entstammt. Wäre dieses Thema ein rein willkürlich aufgestelltes, so wäre dem Buche die ergreifende Wirkung versagt geblieben. Indes Thomas Mann hat den in seiner Novelle geschilderten Zwiespalt unzweifelhaft irgend wie selbst erlebt, wenn auch — mag sein — mehr seelisch als wirklich greifbar, mehr nach innen als nach außenhin. Und was noch wichtiger erscheint, während der Abwicklung des Themas verliert die immerhin konstruierte „Tatsächlichkeit“ (also die Fakta der Krögerschen Abstammung) immer mehr und mehr an Bedeutung, und das Buch wird so zum reinen Künstlerdrama an und für sich.
Außer der „Behauptung“ ist noch ein anderes Moment von entscheidender Bedeutung. Der große Verfasser pflegt gleichsam ungewollt die ganze Ausführung, oft bis ins kleinste Detail, vom Thema und der eigenen Persönlichkeit durchklingen zu lassen. Damit ist gemeint, daß selbst anscheinend, unwesentliche Teile des Romans das Thema wiederspiegeln können Bei Tolstoi, z.B. ist jeder Satz von ... Tolstoi imprägniert. Der Roman „die Auferstehung“ wird durch eine Schilderung des erwachenden Frühlings in der Großstadt eingeleitet, die den geistigen Inhalt des Romans und dessen Grundstimmung geradezu wiederspiegelt. Er sagt etwa: „Obgleich die Leute in der großen Stadt alles getan hätten, um die Natur auszuschalten“ — und nun folgt eine mit Tolstoischem sittlichen Ernst und einer für Tolstoi bezeichnenden gleichsam gewollten Klobigkeit vorgetragene außerordentlich detaillierte Aufzählung alles dessen, was die Leute in dieser Richtung getan haben — „so war der Frühling doch Frühling, selbst in der Stadt“. Also so sind die Leute in ihrer Absonderung von der Natur, mit ihrer konstruierten irdischen Gerechtigkeit, in ihrem Bestreben, sich das Leben so schwierig als möglich zu gestalten und mit ihrem Unvermögen, den klaren so schönen und klarvorgezeichneten Weg zu sehen, den Weg zu Gott durch individuelle Güte. ...
Der Schachfreund möge mir die vom Schach anscheinend abgeirrte Extratour gütigst nachsehen, sie ist unerläßlich zum Verständnis des Nachfolgenden.
Zunächst die Untersuchung der Frage, was wäre im Schach wohl als Behauptung in unserem Sinne anzusprechen? Antwort: Vor allem habe die ausgeklügelte Variante auszuscheiden. Es gibt Meister, die wir als Variantenspieler bezeichnen können; Leute, die sich Monate vor Beginn des Kampfes 15- bis 20zügige Varianten zurechtzulegen pflegen, mit der recht menschenfreundlichen Idee, dem nichtsahnenden Gegner im 14. bzw. 19. Zuge mit der „überraschenden Pointe“ aufzuwarten. Ein treffendes Beispiel hierfür bildet Bogoljubow. Bogoljubow „behauptet“ nicht, denn eine spezifizierte Variante ist keine Behauptung im künstlerischen Sinne! Und ganz richtig, untersuchen wir sein Spiel, so sehen wir, daß dieses nie und nirgends von einer besonderen, Bogoljubowschen Auffassung imprägniert ist, höchstens mit Ausnahme der Fälle, wo er alle angeheiratete deutsche Gründlichkeit bei Seite lassend, sich im wilden Kosakenritt unendlich wohl und befreit fühlt ... Urteil: Der „Variantenspieler“ ist als in höherem Sinne unbegabt zu bezeichnen!
Eine aus philosophischen Erwägungen resultierende Partieanlage kann, .sofern sie Eigenbau ist, als eine Behauptung in unserem Sinne angesprochen werden! Beispiel: In der französischen Partie halte ich im Gegensatz zu allen Kollegen die frühzeitige Bildung der Bauernkette (1. e4 e6, 2. d4 d5, 3. e5) für logisch durchaus begründet. Diese meine Auffassung basiert keineswegs auf variantenmäßigen Ergebnissen, denn nach 3. ... c5 habe ich bald 4. Sf3, bald 4. c3 und neuerdings gar 4. Dg4 gespielt. Nein, die Erkenntnis, daß 3. e4-e5 gut sein müsse, ist als Resultat einer eigenartigen Auffassung vom Wesen der Bauernketten entstanden. Da diese Auffassung Eigenbau ist und den innersten Kern „meines Systems“ streift, so wäre jede Partie, die ich mit dieser Eröffnung gespielt habe oder spielen werde, als schöpferische Leistung im Sinne unserer Ausführungen zu betrachten.
Eine „ausgeborgte“ Behauptung wirkt unecht, im Schach wie auch in der Literatur. Beispiele: Lasker ist Verehrer und Bekenner der gesunden Kraft. Ein Genuß ist es, die Partien nachzuspielen, in denen dieser wahrhaft tiefgründige Meister ein Qualitätsübergewicht unter erschwerenden Bedingungen zur Geltung zu bringen weiß. Weshalb war dieses so genußreich? Ja, weil hier das Ureigenste in Lasker zur Geltung kommt. Dr. O. S. Bernstein hat eine ganz persönlich gefärbte Art die Verteidigung zu führen. Niemand wird ihm das so leicht nachmachen können. Es ist eine Freude, ihm hierin zu folgen. Im Gegensatz hiezu erleben wir an Reti das merkwürdige Schauspiel, daß seine Partien trotz anscheinend origineller Anlage doch geziert und gleichsam ermüdend wirken. Der Grundgedanke Reti'scher Strategie ist in einer Zurückhaltung der Zentralbauern zu erblicken. Keineswegs aber wird gleichzeitig auch von einer Beobachtung der Zentralfelder Abstand genommen. Im Gegenteil, das Zentrum wird scharf fixiert, z.B. durch Läufer, und dessen erfolgreiches Vorgehen bleibt stets unterbunden. Kurz, an Stelle von materiellem Zentrum wird Zentralwirkung angestrebt. Ein lebensvoller Gedanke, ein an Entwicklungsmöglichkeiten reicher Gedanke, nur schade, daß dieser Gedanke durchaus ausgeborgt ist. 1913 und früher habe ich, Nimzowitsch, in der Wiener Schachzeitung einige Artikel veröffentlicht, z. B. „Entspricht Dr. Tarraschs ,Die moderne Schachpartie‘ moderner Auffassung?“, die gegen die althergebrachte materialistische Auffassung des Zentrums Sturm liefen. Ferner habe ich sodann im Petersburger Nationalmeisterturnier 1913 als erster das ideelle Damengambit gespielt, also Verzicht auf Besetzung des Zentrums zu Gunsten von Fernwirkung! Im Petersburger Großmeisterturnier 1914 habe ich sodann das ideelle Damenbauernspiel gegen Janowsky und Bernstein angewandt. Während nun meine im Nationalturnier, mit dieser Variante, zuerst jemals gespielte Partie (gegen Gregory) nur von Aljechin gebracht wurde (ich habe die betreffende Nummer des „Schachmatny Westnik“ nicht selbst zu Gesicht bekommen, indes hat Aljechin mir in Karlsbad mitgeteilt, daß er gelegentlich der Glossierung genannter Partie, meine Eröffnung als eine Neuerung von gewaltiger Tragweite bezeichnet habe), sind ja die Partien gegen Bernstein und Janowsky allgemein bekannt geworden. Die Feststellung, daß ich der Erfinder des ideellen Damenbauernspiels sei (resp. der Eröffnung 1. d4 Sf6, 2. c4 e6, 3. Sc3 Lb4 ohne nachfolgendem d7-d5) bildet gleichzeitig auch die Erklärung hiefür, weshalb die Reti'sche „Nachempfindung“ unecht wirken müsse. Denn die eingangs dieses Artikels in diesem Sinne als Notwendigkeit aufgestellte Voraussetzung des persönlichen Erlebens fehlt somit.
Im Anschluß an obige Erwägungen will ich nun einige Partien bringen, die persönliches Erleben und persönliche Auffassung wiederspiegeln. Die Partien sind neueren Datums und bilden — jede für sich — ein schachkünstlerisches Programm.
Partie A. Indisch.
Aus einem Match Nimzowitsch—Brinckmann.
(Resultat N. +4, B. +0, Remis 0.)
Das unromantische Opfer! „Behauptung“ seitens Schwarz:
a) Weiß erhält eine Bauernmasse, die, trotz einer ihr anhaftenden minimalen Schwäche (Doppelbauer) kompakt und sturmtüchtig erscheint. Das Vorstürmen dient indes bloß dazu, die Schwäche bloßzulegen: ein Loblied auf das zurückgehaltene elastische Bauernzentrum!
b) Stilgerechte Enthüllung der genanntem Zentrum innewohnenden latenten Wirkungskraft, nämlich nicht durch matoide, traumbeschwerte Angriffe, sondern vielmehr durch ein, in seiner unromantischen Nüchternheit, romanhaft schön wirkendes Bauernopfer.
Diese Partie ist von A bis Z eine persönlich gefärbte Leistung. Beide Forderungen — Behauptung und Imprägnieren — sind hier glänzend gezeigt. Keineswegs würde es dem Wert des gesagten Abbruch tun, wenn es sich erweisen würde, daß der weiße Angriff irgendwo durchdringen hätte können. Selbstredend war Lxf3, wie gesagt, außerordentlich gewagt. Daß Brinckmann gegen seinen Willen an dem Kunstwerk, das diese Partie darstellt, passiv mitwirkte (also durch Unterlassung der stärksten Züge), schwächt die Wirkung, die von diesem Kunstwerk ausgeht, keineswegs. Nicht eine Aneinanderreihung von stärksten Zügen macht die Partie zu einem Kunstwerk (die veraltete Anschauung!) nicht auch ferner eine brillante Kombination (Mieses' Auffassung), sondern vielmehr bloß einzig und allein die „Behauptung“ und „das Imprägnieren“!
Partie B. Indisch.
Internationales Meisterturnier Kopenhagen 1923.
Der Zugzwang bei vollem Brett!
Sämisch-Nimzowitsch.
Die von persönlichem Erleben erfüllte Behauptung (von Seiten des Schwarzen): Alle Phantasie, alle Kombinationslust habe ich angewandt, um die Regeln meines Systems zu finden. Habe ich nun alles für das „System“ getan, tut nun das System alles für mich, indem es mir die schönsten Kombinationen verrät ...
Der bekannte dänische Amateurmeister Redakteur Hemmer Hansen äußerte sich über diese Partie in dem Sinne, daß er glaubt, sie wäre der „Unsterblichen Partie“ würdig an die Seite zu stellen. Während Anderssen das „Opfer“ als solches zur Maximalentfaltung zu bringen wußte, hätte ich den Zugzwang zu einer ähnlichen Wirkung gebracht. In dänischen Schachkreisen wird daher diese Partie als: die unsterbliche Zugzwangspartie bezeichnet!
Ehe wir nun zur 3. Partie übergehn, möchte ich noch erwähnen, daß ich es keineswegs glaube, daß der Zugzwang der vorigen Partie sich mehr oder minder unabhängig von der Behauptung ergeben hat. Es ist nur nicht möglich, hier den Zusammenhang näher zu präzisieren, aber ich habe die bestimmte Empfindung, daß der Zugzwang aus der ganzen Partieeinlage organisch hervorgewachsen war.
Partie C. Holländisch.
Nordisches Meisterturnier 1924.
Die heroische Verteidigung.
Die Behauptung seitens Schwarz: Von allen Teilen der Partie ist die Verteidigung, die in einem gewissen Sinne meist vernachlässigte Spielführung. Hierin feiert die Banalität und Gewöhnlichkeit die schrecklichsten Orgien. Nur wenige Stellungen gelten als verteidigungsfähig. Von einer Angriffsmarke im eigenen Lager wird schaudernd Abstand genommen. Das ganze ärmliche Repertoire besteht in einer Kommunikation mit den eigenen Türmen in der eigenen 2. Reihe und im Gegenangriff, etwa nach dem Rezept der 4. Matchpartie Tarrasch - Tschigorin. Originell in der Verteidigung sind außer Lasker und Bernstein nur noch Burn und Duras. Vorliegende Partie ist als ein aus langer Hand vorbereiteter Protest gegen die vorherrschende öde Verteidigung zugunsten einer mehr lebensfrischen, mutigen und phantastischen, zu betrachten. Die Idee ist: Zentrum gegen Flügelspiel!