Zur Frage der „Zukunftseröffnung“

Von A. Nimzowitsch.

In seinem gehaltvollen Büchlein über die genannte Eröffnung weiß Tartakower mit seltener Objektivität den geistigen Anspruch jedes der zwei bis drei Urheber voneinander abzugrenzen und festzulegen: dieses stamme von Nimzowitsch, dieses rühre von Réti her etc. Im großen Ganzen ist Tartakower doch geneigt, die Zukunftseröffnung als ein Konglomerat aus verschiedenen Spielweisen zu betrachten. Schließlich erkennt er meine Berechtigung an, mich als geistigen Urheber betrachten zu dürfen. Da ich es indes in meinem „freiwilligen dänischen Selbstexil“ versäumt hätte meine Ansprüche klarzulegen, so habe Réti mir meine Prioritätsansprüche entrissen. Da ich die Zukunftseröffnung, zu mindestens in der Réti'schen Form für widerlegt betrachte und da ich anderseits anerkenne, daß Réti mit ihr einige Partien von sublimer Feinheit gewonnen hat, so habe ich ja weiter keine Veranlassung, die Eröffnung für mich zu beanspruchen. Immerhin bin ich der Auffassung, daß das von mir in Petersburg 1913 gegen Gregory versuchte Stratagem von geradezu revolutionierender Wirkung war. Ich war der allererste, der es wagte, in den ersten acht bis zehn Zügen auf jeden, wie immer gearteten, Zentralbauern zu verzichten. Man versuche es, sich in jenes Zeitalter hineinzudenken: damals war Tarrasch's verknöcherte Zentrumsphilosophie („Ins Zentrum gehören die Bauern!“) noch die alleinseligmachende. Meine Neuerung wirkte dementsprechend auf alle Gemüter wie eine Ekrasitbombe! Im Petersburger Großmeisterturnier habe ich dann dieselbe in zwei weiteren Partien (gegen Bernstein und Janowski) angewandt. Die Spielweise war (mit Schwarz) 1. d4 Sf6, 2. c4 e6, 3. Sf3 b6, oder 3. Sc3 Lb4 und dann keine Spur von d5, sondern vielleicht mal späterhin c7-c5 (wie in der Partie gegen Gregory) oder e7-e5, wie gegen Janowski.

Bogoljubow hat dann meine Spielweise übernommen und daraus ist dann mit vertauschten Farben die Zukunftseröffnung entstanden.

Niemals ist mir etwas ferner gelegen als die Lust am Experimentieren. Meine neue Spielweise entsprang ausschließlich der Erkenntnis von der Unzulänglichkeit der klassischen (Tarrasch'schen) Zentrumsauffassung. Das Experimentieren liegt mir nicht, ein Pessimist experimentiert nie, höchstens aus Verzweiflung und dazu fehlte mir jede Veranlassung, da ich in den Jahren 1906/13 lauter erstklassige Turniererfolge anfzuweisen hatte. Tartakower meint, die Vorläufer der Modernen, z. B. ich, hätten experimentiert. Dann bin ich eben kein Vorläufer — der Zeit nach — sondern vielmehr der geistige Vater der Modernen!

Aber wie immer die Frage der Vaterschaft liegen möge, Tatsache ist und bleibt, daß die Réti'sche Form der Zukunftseröffnung widerlegt ist. Und zwar durch mich. Nach 1. Sf3 d5, 2. c4 (hier ziehe ich b2-b3!, siehe meine Partie gegen H. Wolf, Karlsbad 1923) e6, 3. g3? steht Schwarz überlegen und zwar wegen 3. d5xc4, der Bauer war eben nicht zur Genüge gesichert, 4. Da4+ Ld7, 5. Dxc4 c7-c5, 6. Lg2 Sc6, 7. 0-0 Tc8, 8. d3 Sf6, 9. b3 Le7, 10. Lb2 0-0 nebst Dc2 und e6-e5. Schwarz hat die strategisch überlegene Stellung, da die weiße c-Linie wegen der Stellung des schwarzen Bauern auf c5 (gedeckt durch b6) ziemlich wertlos ist, während die schwarze d-Linie nach Besetzung des Vorpostens d4 (siehe meine Theorie der offenen Linie, „Wiener Schach-Zeitung“ 1913) „drückend“ wird, um nicht zu sagen: erdrückend. Vergeblich versucht es Tartakower der bedrohten Variante durch eine geistreiche Diversion zu Hilfe zu kommen: er zieht 8. d4 (statt d3). Hierauf folgt indes cxd4, 9. Sxd4 Se5! (besser als das von Tartakower angegebene Sxd4, worauf Dxd4 den a-Bauern bedroht), 10. Db3 Lc5, Schwarz steht enorm; auf 11. Le3 Sg4, 12. Dxb7 Sxe3, 13. fe Dg5 ziehe ich die schwarze Stellung bei weitem vor. — Daß der c-Bauer nach den einleitenden Zügen 1. Sf3 d5, 2. c4 e6, 3. g3? nicht genügend gedeckt sei, habe ich schon seit geraumer Zeit gefühlt, jetzt weiß ich es und mit mir in der Folge auch die Schachwelt. Zum Schluß noch eine kleine Orientierung über „mein System“. Es betrifft nicht die Eröffnungslehre, sondern vielmehr das Mittelspiel. Es ist eine Reihe von Regeln über die einzelnen Elemente der Schachstrategie wie die offene Linie, die siebente Reihe, der Freibauer, Abtauschkombinationen, Bauernketten; alles schön geordnet, alles da, es fehlt nur — der Verleger. Seit vier Jahren habe ich über „mein System“ Vorträge in Skandinavien gehalten und schon allein aus diesem Grunde habe ich meinen Aufenthalt hier kaum als Selbstexil empfinden können. Das mir die Turniere nicht immer zugänglich waren, ist jedenfalls nicht als Folge dieser Zurückgezogenheit zu betrachten. Es würde und wird mir nie einfallen „abgelehntes Turniergambit“ zu spielen. Im Gegenteil, wird jede Aufforderung an einen internationalen Turnier teilzunehmen, gerne angenommen.