6.2 Die aggressive Turmstellung als charakteristischer Endspielvorteil

Beispiele und Begründung. Der aktive Offizier im Allgemeinen. Die Tarrasch'sche Formulierung

Wenn sich jemand über eine Stellung aus dem Mittelspiel so auslassen wollte, daß er sagte, die Stellung sei sonst zwar ausgeglichen, aber Weiß habe den Vorteil aggressiver Turmstellung und dieser Vorteil müsse entscheidend wirken, so würde diese Antwort des Kandidaten Jobses das bekannte allgemeine Schütteln des „Kopfes“ hervorrufen. Und in der Tat, der fürs Mittelspiel so geringe Vorteil kann nicht entscheidend wirken. Ganz anders verhält sich die Sache im Endspiel, hier erweist sich genannter Vorteil als außerordentlich bedeutsam. Siehe Diagramm 79.

Diagramm 79

Der weiße Turm hat die aggressive, der schwarze Turm die passive Stellung.

In der Stellung: Weiß Ba4, Tb5; Schwarz Ba5, Ta7 kann bei noch beiderseits vorhandenen Königsflügelbauern die weiße Turmstellung als Basis zu einem Vorgehen am Königsflügel gemacht werden. Noch mehr im Falle der Bauernkonfiguration Weiß a5, Schwarz a6, siehe Diagramm 79a.

Diagramm 79a

Weiß vermag, durch 1. h2-h4 nebst gelegentlichem h4-h5 und h5xg6, den g-Bauern zu Angriffszwecken bloßzulegen. Und während der weiße Turm die Seele dieser neuen Operation bildet, vermag der schwarze Turm nicht so viel an Elastizität aufzubringen, um dem gegnerischen angreifenden Kollegen genügend an Verteidigungswerten auch nach dem Königsflügel hin entgegensetzen zu können.

Also wir formulieren Gesagtes so: Die Schwäche des verteidigenden Turmes liegt in dessen geringer Elastizität nach dem anderen Flügel hin begründet.

Ferner aber auch darin, daß der weiße König größere Manövrierfreiheit gewinnt (er fürchtet doch sonst die Türme), oder, wie ein russisches Sprichwort sagt: Ist die Katze aus dem Haus, spazieren die Mäuse auf dem Tisch! In Diagramm 79a wäre demnach die Drohung Kf4 nach b6 (natürlich peu à peu) keineswegs gering einzuschätzen.

Es gehört zu den für Meister-Kämpfe alltäglichen Erscheinungen, daß der eine der Partner lange Manöver macht und sich überhaupt mächtig ins Zeug legt, nur um (als Resultat aller Bemühungen) die aggressive Turmstellung zu erwischen, namentlich aber, um dem gegnerischen Turme eine passive Rolle aufzudrängen. Der aktive Turm hat dann ein wahrhaft „erhebendes“ Gefühl, ähnlich wie die Primadonna, die in der gleichen Vorstellung, da sie selbst die Hauptpartie singt, ihre Rivalin in einer unbedeutenden Nebenrolle sich abmühen sieht.

Und andererseits ist es verständlich, wenn sich die solchermaßen verunglimpfte Rivalin – krank meldet und die Vorstellung ins Wasser fallen läßt. Solches geschieht in nachstehend gezeigter Stellung. Weiß Kg1, Tc5, Ba4, h2, g2; Schwarz Kg8, Tb7, Ba5, h7, g7.

Wir sind nach hartem Kampf mit uns selbst und in voller Erkenntnis der dadurch übernommenen schweren Verantwortung doch zum Entschluß gelangt, Ihnen folgende Regel zu verabfolgen: Vor die Wahl gestellt, den angegriffenen Bauern durch einen Turm, der aber dadurch zu einem passiven, sehr beschaulichen Dasein verurteilt würde, zu decken, oder aber ihn (den Bauern) kurzerhand zu opfern, um so den Turm lieber aktiv zu verwenden, entschließe man sich zur letzteren Alternative.

Diese Regel muß, wie gesagt, mit Vorsicht „genossen“ werden. Der größere oder geringere Grad der Aktivität bzw. der Passivität muß in jedem einzelnen Falle besonders unter die Lupe genommen werden. Es liegt nicht in unserer Absicht, eine „Opferitis“ hervorzurufen. Also: opfere, aber mit Verstand!

Wann ist eine Turmstellung als aktiv zu bezeichnen, mit Hinblick auf einen eigenen oder feindlichen Freibauern?

Diese Frage hat bereits Tarrasch beantwortet, seine treffliche Formulierung lautet: Der Turm gehört hinter den Freibauern, sowohl hinter den eigenen, als auch hinter den feindlichen! Siehe Diagramm 80.

 

Diagramm 80

Die so gewonnene Turmstellung ist aggressiv

  1. mit Hinblick auf den weißen g-Bauern, der gelegentlich verspeist werden kann;
  2. mit Hinblick auf eine eventl. weiße Königsreise (beispielsweise, der weiße König gelangt nach a6, dann könnte Tb2 ihn einschließen oder ihm eine Schachserie von hinten applizieren, im Fall der König nach b8 oder c8 käme).

Nicht bloß bei Türmen, sondern auch bei kleinen Figuren fällt der Wertunterschied zwischen einem angreifenden oder verteidigenden Offizier stark ins Gewicht.

Die Schwäche des deckenden Springers liegt in dessen Eindeutigkeit begründet (hat keinen Lavierzug, der die Deckung nicht aus der Hand gäbe); diese Eindeutigkeit begünstigt den Zugzwang. Siehe Stellung: Weiß Ke5, Sc4, Ba4, b5, g5; Schwarz Ke7, Sc8, Ba5, b6, g6. Schwarz am Zuge erliegt dem Zugzwang. Weiß am Zuge (und das ist die Pointe) leidet nur scheinbar an einer ähnlichen Krankheit, der agile weiße Springer kann mannigfache Drohungen entfalten.

Man versetze die ganze eben gezeigte Stellung eine Reihe tiefer nach unten (also Weiß Ke4, Schwarz Ke6 usw.), auch dann gewinnt Weiß.

Bei deckendem Läufer macht sich der Umstand geltend, daß er an Schnelligkeit des Frontwechsels seinem angreifenden Kollegen nicht gewachsen erscheint. Man vergleiche die reizende Gewinnführung in Diagramm 81.

Diagramm 81