4.6 Die privilegierten Freibauern

a) die zwei verbundenen, b) der gedeckte, c) der entferntere Freibauer. Der König als Plombeur. Über Reisevorbereitungen. Der Anfänger auf der Jagd nach einem nicht einzuholenden Freibauern.

Auch auf den 64 Feldern pflegen die Güter nicht ganz gleichmäßig verteilt zu sein; so gibt es beispielsweise Freibauern, die von weit größerer Wirkung sind als die anderen, gewöhnlichen Freibauern. Solche („privilegierte“) Freibauern verdienen es, beim Lernenden in hohem Ansehen zu stehen; dieser versäume nur selten eine Gelegenheit, sich einen „privilegierten“ zu verschaffen. Im nachfolgenden wollen wir nun versuchen, die Wirkung genannter Bauern aus ihrer ganzen Wesensart heraus zu erklären. Daraus wird sich dann zwanglos die Regel ergeben, das Für und Wider im Kampfe mit oder gegen die eben erwähnten Riesenknaben.

Die typische Idealstellung der zwei verbundenen Freibauern beliebe man aus der Diagrammstellung 59 zu ersehen.

Diagramm 59

Der c-Bauer ist ein gedeckter Freibauer, die g- und h-Bauern sind zwei „verbundene“ in Idealstellung.

Die Beziehungen der „verbundenen“ zu einander sind von echter Kameradschaftlichkeit erfüllt und daher ist die Stellung der Bauern auf ein und derselben Reihe als die natürlichste zu betrachten.

Die Kraft der solchermaßen postierten Freibauern liegt in der Unmöglichkeit begründet, sie zu blockieren (denn Bh4 und g4 lassen doch eine Blockade auf h5 und g5 als ausgeschlossen erscheinen). Indes verlangt es die weitere Entwicklung der Dinge, daß die zwei Freibauern ihre Idealstellung aufgeben, denn auf g4 und h4 wirken sie (mag sein) ganz schön und brav, aber die Expansionslust, die ihnen wie jedem anderen Freibauer auch in hohem Maße eigentümlich ist, wird sie weitertreiben. Und beim Vorgehen des einen ergeben sich eben doch Blockademöglichkeiten. z.B. nach h4-h5 können schwarze Offiziere auf g5 oder h6 blockieren. Aus obiger Betrachtung in Verbindung mit der Erwägung, daß die verbundenen Bauern h4 und g4 nichts sehnlicher wünschen können als ein gemeinschaftliches Avancement (nach h5 und g5) ergibt sich folgende Regel: Das Vorrücken des einen Freibauern aus der Idealstellung hat in einem Moment zu erfolgen, da starkes Blockieren seitens des Gegners nicht befürchtet zu werden braucht, weil letzteres undurchführbar ist. Und ferner: Ist der rechte Bauer im richtigen Moment vorgegangen, so wird die einsetzende schwache Blockade mit leichter Mühe überwunden werden können; der zurückgebliebene Bauer wird dann nachrücken und die Idealstellung ist wieder erreicht! Also wie folgt (siehe Diagr. 59 , rechts): im richtigen Moment zieht der rechte Bauer, also sagen wir g4-g5, was dem Gegner eine Blockademöglichkeit auf h5 gewährt. Der blockierende Stein, der offenbar schlecht sekundiert war (daher der Ausdruck „schwache Blockade“), wird verjagt und der Zug h4-h5 macht die Stellung wiederum zur Idealstellung (h5, g5).

Als wichtiges Hilfsmittel dient hierbei das Hineinschlüpfen des weißen Königs in die beim Vorrücken entstehenden Breschen. Also ( Diagramm 59 ) g4-g5 Sh5 und nun schlüpft der bereitstehende weiße König nach g4 hinein und bessert so die Lücken aus. Dieses hier gezeigte Manöver nennen wir das „Plombieren“ der Bauern. Demnach brauchte „mein“ König nie zu befürchten, daß er arbeitslos werden könnte, er bewirbt sich schlimmstenfalls um eine Stellung als Zahnarzt irgendwo auf dem Lande und - plombiert die Bauern!

Diagrammstellung 59a ergab sich im Jahre 1921 in einem Klubkampf in Stockholm.

Diagramm 59a

Weiß zog 1. b6+? und gestattete hierdurch die absolute Blockade 1…Kb7; absolut, weil Kb7 nach Lage der Dinge nie vertrieben werden kann. Es folgte 2. Kd6 und der König wanderte bis nach g7 und labte sich an Bh7. In diesem Moment geschah aber Lh5 und die Mahlzeit am Königsflügel erwies sich als vollendet. Reumütig wanderte nun seine Majestät nach dem anderen Flügel hin, aber auch dort war nichts mehr zu wollen, denn der nun freigewordene Lh5 machte das Brett unsicher. Den Anziehenden hat die gerechte Strafe ereilt, für sein gegen die Regel verstoßendes Vorgehen.

„Ich hatt’ einen Kameraden“, zu diesem schönen Liede bilden die beiden verbundenen Freibauern eine schöne Illustration. „In gleichem Schritt und Tritt…“ Nur selten und nur bei weit vorgeschrittenen Freibauern, also bei allzu üppig gewordenen Bauern, kann es vorkommen, daß ein Bauer unter rücksichtsloser Preisgabe seines Kameraden vorrückt (siehe Diagramm 60 ).

Diagramm 60

Schwarz zieht. Der Bg5 läßt seinen Kameraden h4 schmählich im Stich! Ja, wenn ein Bauer „groß“ geworden ist, dann läßt die Kameradschaftlichkeit nach! 1…g5-g4! 2. T×h4 g4-g3 und gewinnt.

Wir wenden uns nun dem gedeckten Freibauer zu.

Der Wertunterscbied zwischen einem gedeckten und einem gewöhnlichen Freibauern erhellt aus folgendem Beispiel (siehe Diagramm 61):

Diagramm 61

Allerdings hat man es schon erlebt, daß der weniger erfahrene Spieler dieser Immunität zum Trotz (in der Stellung Schwarz Ke5, Bg5; Weiß Ka1, Bf5 und g4) freundlich schmunzelnd und doch voller Kampfbegierde auf den g-Bauern. Nach 1. ... Kf4 2. f6 sieht er seinen Irrtum ein und beginnt allen Ernstes (!!) dem vorgelaufenen Bauern nachzujagen.

Im Diagramm 62 ist der h-Bauer der „entferntere“ Freibauer (gemeint ist: vom Mittelpunkt).

Diagramm 62

Der entferntere Freibauer ist demnach ein Trumpf (voll ablenkender Kraft), muß aber, wie jeder andere Trumpf auch, geschont werden: nicht zu zeitig ausspielen, lautet die Regel. Der ablenkende Bauerntausch war ja nur der Auftakt zur nachfolgenden Königsreise (vergl. Diagramm 62 ). Letztere soll aber bereits vor erfolgtem Bauernvorstoß auf das sorgfältigste vorbereitet sein! Siehe die Stellung: Weiß Ke4, Ba6, c4, h2; Schwarz Kd6, Ba5, e5, g7.

Regel: Die geplante Königsreise soll bereits vor erfolgtem Ablenkungsopfer (bzw. Tausch) sorgfältig vorbereitet erscheinen. Man bediene sich womöglich des Zugzwanges. Die „Reisekollegen“ vorstoßen! Die Reisehindernisse (die gegnerischen Bauern am Reiseflügel) vorlocken. Alles das vor geschehenem Ablenkungszuge! – Man vergleiche übrigens Beispiel 6, Diagramm 66.