Die „Aufgabe des Zentrums“ - ein Vorurteil

Über die Variante 3. ... d5xe4.

Von A. Niemzowitsch.

Wenn Schwarz in der vielumstrittenen Variante 1. e4 e6 2. d4 d5, 3. Sb1-c3 den Zug 3. ....d5xe4 tut, so gibt er hierdurch nach landläufigen Begriffen das Zentrum auf — diese Ansicht scheint mir auf einer unvollständigen und missverständlichen Auffassung des Begriffes Zentrum zu beruhen. Nachstehend soll nun der Versuch unternommen werden, 1. dieses Vorurteil als solches zu fixieren, 2. die historische Entwicklung desselben aufzudecken.

Zunächst die Definition des Begriffes Zentrum.

Hierbei haben wir uns einfach an den Wortlaut zu halten: Zentrum

— das ist: — die in der Mitte des Brettes gelegenen Felder. — Felder! nicht Bauern! Das ist wesentlich und darf unter keinen Umständen ausser Acht gelassen werden.

Die Bedeutung des Zentrums, das heisst des in der Mitte des Brettes gelegenen Felderkomplexes, als eine Basis zu weiteren Operationen, ist über jeden Zweifel erhaben. Unter anderem sei an eine Partieglosse von Emanuel Lasker erinnert.

„Weiss,“ so schrieb er, „steht im Zentrum nicht gut genug, um auf den Flügeln operieren zu können.“ Das ist sehr fein gedacht und illustriert gleichzeitig die tiefen Zusammenhänge zwischen der Mitte und den Flügeln: das Zentrum — als dominierendes Prinzip, die Flügel — als untergeordnetes.

Dass die Beherrschung der Mitte von grosser Bedeutung sein muss, erhellt schon allein daraus, dass man, wenn man sich im Zentrum aufgebaut, von dort aus die Möglichkeit hat, nach beiden Flügeln gleichzeitig zu wirken, eventuell überzuschwenken.

Ohne gesunde Verhältnisse im Zentrum ist auch entschieden keine gesunde Stellung denkbar.

Wir sprachen von einer Beherrschung der Mitte. Was haben wir nun darunter zu verstehen? Wodurch wird diese bedingt?

Die Meinung ist nun diese: das Zentrum soll durch Bauern besetzt sein: e4 und d4 ist das Ideal, aber schon einer von diesen zweien (falls der Gegner nicht den entsprechenden Bauern hat) bedingt die Besitzergreifung der Mitte.

Ist dem wirklich so? Berechtigt denn in vorliegender Stellung Bauer d4 von einer Eroberung des Zentrums zu sprechen?

Wenn ich in einer Schlacht, in der es sich, wie wir supponieren wollen, zunächst um die Eroberung eines zentral platzierten offen, das heisst unbefestigt gelegenen Terrains handeln möge, wenn ich da das strittige Terrain mit einer Handvoll Soldaten besetze, ohne aber die gegnerische Beschiessung des „eroberten“ Platzes damit verhindert zu haben, würde es mir da einfallen, von einer Eroberung des fraglichen Terrains zu reden ? Selbstredend nicht. Warum also sollte ich dies in einer Schachpartie tun?

Man sieht daher langsam, worauf es eigentlich ankommt: nicht bloss auf eine Besetzung, das heisst Platzierung von Bauern, sondern vielmehr auf die allgemeine Wirksamkeit im Zentrum und diese wird durch ganz andere Faktoren bestimmt.

Diesen Gedanken habe ich so formuliert: Mit dem Verschwindenlassen eines Bauern aus dem Zentrum (zum Beispiel d5xe4, Diagr. I) Ist das Zentrum noch lange nicht aufgegeben. Der Begriff des Zentrums ist ein viel weiterer.

Diagramm I
Diagramm II

Freilich sind gerade die Bauern zur Zentrumsbildung am geeignetesten, weil am stabilsten, aber im Zentrum platzierte Figuren können sehr wohl die Bauern ersetzen. Und auch ein auf das feindliche Zentrum ausgeübter Druck, ausgehend von hinwirkenden Türmen, respektive Läufern, kann von entsprechender Bedeutung sein.

Letzterer Fall tritt uns nun gerade in der Variante 3. ... d5xe4 entgegen. Der Zug, irrtümlich als eine Aufgabe des Zentrums bezeichnet, erhöht in der Tat die Wirksamkeit des Schwarzen im Zentrum ganz bedeutend. Denn durch die mit d5xe4 erfolgte Beseitigung des Sperrsteines d5 erhält Schwarz freie Hand in der d-Linie und der Diagonale b7-h1 (die er sich mit b7-b6 öffnet).

Sperrstein! Das ist die Schattenseite der Bauernbesetzung der Mitte. — Ein Bauer ist seinem Wesen nach (Stabilität, sozusagen konservativer Sinn) guter Zentrumsbildner, dabei aber leider auch Sperrstein!

Dass die Wirksamkeit im Zentrum von der Anzahl der dieses besetzenden Bauern unabhängig sei, davon lehren uns viele Beispiele, aus deren Fülle wir einige herausgreifen wollen. — Figuren im Zentrum:

1. e6 und d5 blockiert durch weisse Springer e5 und d4, zum Beispiel Diagr. III Niemzowitsch-Löwenfisch, Karlsbad 1911.

Ähnliche Lage in der Mitte kann sich leicht in der Französischen ergeben, ich zitiere noch die Partien Rubinstein-Löwenfisch und Niemzowitsch-Salve, beide Karlsbad 1911.

Diagramm III
Diagramm IV

2. Das aus dem isolierten Damenbauer durch Abtausch eines Springers c6 resultierende isolierte Bauernpaar d5 c6. Siehe Diagr. IV.

Diese zwei angeführten Fälle zeigen uns eine Blockierung. Das ist aber ein dehnbarer Begriff und oft bildet schon eine leichte Fixierung durch einen „drückenden“ Turm, welche zunächst bloss das Vorgehen des feindlichen Zentrums unterbinden soll, die Einleitung zu einer völligen Lahmlegung, welche in einer mechanischen Behinderung, Stoppung genannt, gipfelt.

Die Fälle einer Druckausübung gegen das feindliche Zentrum sind ohne Zahl und Ende. Siehe auch Diagramm II. Selbige führt entweder zur Blockierung nebst nachfolgender Vernichtung — denn nur Bewegung ist Leben — oder zu unbequemen Stellungen der deckenden Figuren, durch welchen Umstand der „glückliche“ „Besitzer“ des Zentrums zu Falle kommt.

Gesagtes lehrt uns, dass mit der arithmetischen Abzählung der Zentrumsbauern nichts, aber auch rein gar nichts gewonnen sei. Letztere gar zum Ausgangspunkt einer Zentrumsphilosophie machen zu wollen, müssen wir als durchaus verfehlt bezeichnen. Das sind veraltete Requisite der ersten — nur der Zeit nach — unter den modernen Positionsspielern.

Ich bin sicher, dass schon nach wenigen Jahren niemand 3. ... d5xe4 als „Aufgabe des Zentrums“ ansehen wird. Aber mit dem Schwinden dieses Vorurteils wird die Bahn frei zu einer neuen und glänzenden Entwicklung der Schachphilosophie und — Strategie.

Noch einiges zur Entstehung dieses Vorurteils; sie ist mit der Geschichte des Positionsspiels eng verbunden ...

Zuerst war Steinitz. Was er aber sagte, war dermassen ungewohnt und er selbst war so überlebensgross, dass seine „modernen Prinzipien“ nicht ohne weiteres populär werden konnten.

Da kam Tarrasch, griff die Steinitzschen Gedanken auf und überreichte sie in wohlschmeckender Verdünnung dem Publikum.

Um nun unseren Fall zu betrachten: Steinitz war, wie gesagt, tief und gross, am grössten und tiefsten war er aber in seiner Auffassung des Zentrums! Wie er zum Beispiel in seiner spanischen Verteidigung (d7-d6) den anscheinend so gesunden feindlichen Bauern e4 in eine für jeden als solche erkennbare Schwäche zu verwandeln wusste, das ist das Beste vom Besten!

Nichts lag ihm ferner als eine formalistische, arithmetische Auffassung des Zentrums. ...

Zur Illustration diene nachstehende Partie:

Anmerkung

Dieser Artikel wurde am 21.12.1913 in der schwedischen Zeitung Sydsvenska Dagbladet Snällposten veröffentlicht. Er sollte auch in der Wiener Schachzeitung erscheinen, wozu es aber erst 10 Jahre später kam. Als Erklärung gibt die Redaktion folgende Bemerkung ab:

Dieser Artikel war zur Publikation in der „Wiener Schachzeitung“ bestimmt, die infolge der Kriegswirren ihr Erscheinen einstellen musste. Meister Marco stellt uns ihn nun zur Verfügung und wir veröffentlichen Ihn umso lieber, als er ja gerade heute im Zeitalter der „Neu-romantischen Schule“ einen hohen Grad von Aktualität besitzt. D R.