Das Problem der Verteidigung.

Einige kleine Beobachtungen und Erlebnisse anläßlich meiner Schweizer Tournee 1931.

Von A. Nimzowltsch.

Daß die Verteidigung genau so gut wie der Angriff auf den von mir erfaßten und neubearbeiteten Stratagemen: der Zentrierung, Hemmung Vorbeugung und Überdeckung basieren müsse, ist für Schreiber dieser Zeilen eine Selbstverständlichkeit. Doch scheint die korrekte und namentlich sinngemäße Übertragung dieser Stratageme auf das Gebiet der Verteidigung Schwierigkeiten zu bereiten, denen selbst erfahrene Spieler, ja Meister, nicht immer gewachsen sind. Aus der Masse der spezifischen Verteidigungsprobleme — spezifisch, weil die Anwendung unserer Stratageme innerhalb der Verteidigung eine teilweise Umstellung erfordern — greifen wir nachstehend einige wenige heraus.

I. Der Fluch der starren Verteidigungslinie. Es lebe die bewegliche Bauernfront!

Der Verteidiger darf sich keineswegs damit abfinden, hinter seiner einmal eingenommenen Bauernlinie Verschiebungen (der Figuren) in der inneren Linie vornehmen zu wollen. Das wäre eine ärmliche Strategie, ganz im Sinne der Tarrasch-Zeit. Denn Tarraschs Ideal, das war die Bequemlichkeit, und bequem ist es, seine Bauern in die Front zu bringen, um die Aufstellung der eigenen Figuren dann dieser Bauernfront anzupassen. Bequem, aber zugleich auch untief und falsch! Richtig ist es vielmehr, diese Verteidigungsfront elastisch (=beweglich) zu gestalten: die Bauernfront rückt vor oder zieht sich zusammen (durch Tausch eines vorgerückten eigenen Bauern.) und — nun kommt das Unbequeme! — die Figuren passen sich den neuen Verhältnissen blitzschnell an! Von den älteren Meistern waren Louis Paulsen und namentlich Dr. Em. Lasker große Virtuosen in der Kunst, die Verteidigung elastisch zu führen. Nach meinem Dafürhalten lassen sich 60 Prozent aller eingeengten Stellungen nur so verteidigen; hingegen hat die starre Bauernfront selten Kraft genug, um dem drohenden zerstörenden Einengungsprozeß Halt zu bieten. Wir wollen dies an einigen Beispielen demonstrieren.

Ein weiteres Beispiel für den Nachteil einer starren Verteidigungslinie zeigt folgendes Schlußspiel, das gleichfalls aus dem Schweizer Meisterturnier in Winterthur 1931 herrührt.

II. Die Verteidigung im Falle des vorhandenen Doppelkomplexes c7, c6, d5.

Wiewohl die zu einer Masse vereinte Bauernschar c6, c5, d5, e5 und gar f5 sehr dynamisch werden kann, darf die Betonung dieses Umstandes durchaus nicht übertrieben werden, siehe Diagramm V.

III. Die Zentrierung als wirksames Verteidigungsmittel.

Ein Flügelangriff ist nur dann berechtigt, wenn er sich auf eine gewisse Zentralsicherheit stützt. Ich bin gegen feindlichen Zentraleinbruch gesichert oder aber, ich bin in der Lage, den drohenden Einbruch mit einem Minimum an Kräften abzuwehren. Schön, in diesem Falle sei der Flügelangriff gestattet. Hinwiederum: Ich habe sozusagen zwei Armeen, die eine greift am Flügel an, die andere okkupiert einige Zentralpunkte; auch diese Situation darf günstig beurteilt werden. Wie aber, wenn die Zentralarmee vernichtet werden kann? Wird dann die am Flügel operierende Armee nicht plötzlich entwurzelt erscheinen? Ja, denn sie verlöre sofort jede strategische Existenzberechtigung, denn, wie gesagt, ein Flügelangriff ohne eigene Zentralsicherheit ist und bleibt ein Nonsens.

Demnach darf man verlangen, daß der Verteidiger den „Zusammenhang“ der feindlichen Armeen scharf kontrolliert, denn gegebenfalls wäre die Flügelärmee durch Vernichtung der Zentralarmee zu entwurzeln! Siehe nun Diagramm VI.

Wir schließen mit folgenden Worten: Man verteidige positioneil, ohne allerdings die sich jeweilig bietenden taktischen Chancen zu verschmähen. Dann werden Ihre Erfolge überraschend groß sein, denn die Schachpartie ist ja in Wirklichkeit sehr reich an Ressourcen!