6.10 „Kombinationen, die unter dünner Decke schlummern“

Partien 107 - 109

Damit meinte Professor Adolf Andersen, denn er war es, der dieses treffliche Wort geprägt hat, die Kombinationen der geschlossenen Partie; wäre dieser große Altklassiker heute noch am Leben, so wäre es nicht unwahrscheinlich, daß er sämtliche Kombinationen der hypermodernen Richtung mit einbezogen hätte. In der Tat scheint den modernen Kombinationen etwas gesucht Unauffälliges anzuhaften: zuweilen huschen sie gespensterhaft zwischen den Zeilen, ohne sich in den Text hineinzuwagen. Aber selbst dann, wenn sie, von einer kräftigen Welle erfaßt, aus dem unterirdischen Dasein an die Oberfläche des Partiegeschehens gespült worden sind, selbst dann erscheinen sie noch voller Reserve (so gar nicht Donner und Blitz). Und ihr bescheidenes Äußere (man sehe zum Beispiel: 17. ... Sg6 in der Glosse zum 16. Zuge der Partie Nr. 107) steht gar häufig in — fast könnte man sagen: gewolltem — Gegensatz zu der gedanklichen Tiefe, die sie bergen.

Es liegt uns natürlich fern, behaupten zu wollen, daß Bescheidenheit zu den markantesten Merkmalen unserer Epoche gehört; aber es gibt eine Abart der Bescheidenheit, die für unser Zeitalter typisch zu sein scheint, wir meinen das willige Sicheinordnen in das Ensemble (Reinhardt, Stanislawsky; man denke auch etwa an den Film „Potemkin“, in dem es nur eine „Hauptperson“ gibt, die Volksmasse!). — In Betracht mag (außer der Bescheidenheit) auch die (gleichfalls für unser Zeitalter typische) liebevolle Behandlung des rein Technischen kommen. Von Belang dürfte schließlich auch die namentlich von seiten des Verfassers geführte Kampagne sein, die sich das Ziel gesetzt hatte, die bestehende Schachästhetik durch eine neue zu ersetzen: Schön sei weder das Aufspeichern geringfügiger Vorteile noch die „aus einem Guß“ gespielte Partie, schön sei vielmehr alles, was irgendwie das krause Schachgeschehen an die Naturgesetze knüpfe, um so zu offenbaren, „wie gütig und wunderbar und geheimnisvoll die gütige Allmutter Natur ihres Amtes walte“. Wir zitierten soeben unsere in Kagans Neueste Nachrichten 1926 Seite 484 erschienene Abhandlung („Was ist schön?“) und entnehmen ihr auch folgende Beschreibung eines Kampfes, der uns als Schulbeispiel für die neue Schachästhetik gilt: „Schwarz gerät dank sorglosem Spiel auf eine schiefe Ebene. Aber mit ungeheurer Willensanspannung findet er einen Zug, der die Partie gerade noch hält. Dem Abwärtsschreiten ist ein Ziel gesetzt. Und dann beginnt ein Vorwärtsschreiten aller Stellungswahrscheinlichkeit zum Trotz, denn die Partie steht glatt auf Remis. Warum gewinnt aber Schwarz? Nun, weil das unter gewaltsamer Willensanspannung herbeigeführte Abstoppen des Auflösungsprozesses die in der schwarzen Stellung schlummernden Kräfte auslösen mußte, die dann überraschend zur Geltung kamen. Der Lungenarzt kennt dieses Phänomen genau: Wird der Prozeß erst einmal gestoppt, dann folgt auch unbedingt ein Aufwärtsschreiten, die Heilung.“

Raummangel verbietet uns ein detailliertes Eingehen; wir verweisen statt dessen auf den oben zitierten Artikel. Aber wir glauben, selbst mit diesen nur kurzen Andeutungen plausibel gemacht zu haben, daß die moderne Kombination weniger aufdringlich ist, billigen Glanz eher meidet und sich dem strategischen Geschehen williger unterordnet, als dies bei den Kombinationen der alten Schule der Fall war. Daß also die moderne Kombination die von Andersen gegebene (wenn auch auf jemand anders gemünzte) Charakteristik vollauf verdient!