9.5a Der positionelle Kampf vulgo die langsame Belagerung der ungedeckten Basis

Die mehrfache Beschießung. Die deckenden Figuren stehen einander im Wege! Wie man den Druck behaupten kann. Das Entstehen neuer Schwächen. Die Basis als Endspielschwäche.

Diagramm 120

Die für einschlägige Fälle typische Strategie erhellt aus folgenden Postulaten:

  1. Die auf ihrem Platze fixierte gegnerische Basis soll durch Figuren mehrfach angegriffen werden.
  2. Hierdurch wird zum mindesten der ideelle Vorteil der aggressiven Figurenstellung erreicht, der sich darin äußert, daß für den Gegner gewisse Entwicklungsschwierigkeiten zu entstehen pflegen. (Erwähnenswert wäre auch die geringe Elastizität bzw. Manövrierfähigkeit der „deckenden“ Figuren: beispielsweise im Falle eines plötzlichen Angriffes an dem anderen Flügel können die deckenden Figuren es den angreifenden an Schnelligkeit nicht gleichmachen und bleiben zurück.)
  3. Man suche den Druck gegen die Basis so lange als möglich aufrecht zu erhalten, zum mindesten aber bis zum Entstehen neuer Schwächen im gegnerischen Lager (die „neuen Schwächen“ treten als logische Folge der Entwicklungsschwierigkeiten auf).
  4. Hernach wird der Kampfplan modifiziert: die ursprüngliche Schwäche (Basis d4) wird freigegeben, die neue – mit größter Energie angegriffen!Und nur viel später, also etwa im Endspiel erst, wird die schwache feindliche Kettenbasis neuerdings zum Angriffsobjekt „erhoben“.
  5. Die schwache Basis ist überhaupt letzten Endes als Endspielschwäche anzusehen, da das spezifische Angriffsinstrument (die offene Nebenlinie, also in unserem Falle die c-Linie) erst im Endspiel voll und ganz zu seinem Rechte kommt (Tc8-c2-c4xd4).
  6. Der Angreifer vergesse nie, daß auch er seinerseits eine Basis zu verteidigen hat. Kommt Weiß dazu, seine eigenen Verhältnisse im Kettenbereiche zu sanieren, also den Druck gegen d4 abzuschütteln, so kann f2-f4-f5 mit Angriff gegen Basis e6 oder aber ein Figurenspiel gegen den durch e5 eingeengten Königsflügel dazu führen, daß der Spieß total umgedreht wird.

Die Anwendung von a) dürfte dem Lernenden kaum Schwierigkeiten bereiten. Siehe beispielsweise folgende Stellung: Weiß Kd2, Tc1, Sb2, Ba2, b4, c5, d5, e4, f5, g2, h3; Schwarz Kb8, Tf8, Sh6, Ba7, b6, c7, d6, e5, f6, g7, h7.

Viel schwieriger ist es für den Lernenden, den unter c) und d) gezeigten Sachverhalt zu assimilieren. Die direkte Ausnützung einer Bauernschwäche ist nicht eigentlich Sache des Mittelspiels (siehe Punkt f). Alles, was wir zu erreichen hoffen dürfen, ist, den Gegner eine geraume Zeit unter dem Nachteil der erzwungenen Deckungspflicht leiden zu lassen. Hat sich als Folge genannter Schwierigkeiten eine neue Schwäche im feindlichen Lager ergeben - was nicht unwahrscheinlich ist - so ist es nicht nur erlaubt, nein, so ist es geradezu angezeigt, die Basis freizugeben, um sich der neuen Schwäche zu widmen. Je mehr entfernt (geographisch und logisch) die beiden Schwächen von einander sind, umso besser für uns! Dieser Zusammenhang war der pseudo-klassischen Schule ziemlich unbekannt.

Tarrasch z.B. pflegte die einmal erwählte Basis mit unerbittlicher Gradlinigkeit fortgesetzt anzugreifen, zum mindesten aber dem einmal erwählten Flügel treu zu bleiben (siehe Paulsen - Tarrasch).

Demgegenüber legen wir Wert auf die Feststellung, daß die Schwäche der gegnerischen Basis erst im Endspiel voll und ganz ausgenützt werden kann (vergl. Punkt e) oder genauer: im Endspiel ist das Ziel ein direktes, nämlich veritable Eroberung der als Angriffsobjekt fungierenden Basis; im Mittelspiel kann und soll die Beschießung aber nur indirekte Vorteile schaffen helfen. Schwarz greift beispielsweise schon im Mittelspiel die feindliche Basis an; die gegnerischen deckenden Figuren stehen einander im Wege, Entwicklungsschwierigkeiten entstehen und Weiß sieht sich dazu gezwungen, eine neue Schwäche im eigenen Lager zu schaffen (zwecks Behebung der Entwicklungsschwierigkeiten). Die neuentstandene Schwäche ist nun als die indirekte Frucht unserer Belagerungsarbeit zu betrachten; die Existenz der „verflossenen“ Flamme ist ganz und gar zu vergessen und des Angriffes ganze Wucht richte sich gegen die „neue“. Und erst im Endspiel darf es geschehen, daß wir von ihr, „der einst angebeteten“ wieder anfangen Notiz zu nehmen. Im Endspiel also mag die Basis wieder zum hauptsächlichen Angriffsobjekt werden!

Als Beispiel für die eben erläuterte indirekte Ausnützung einer geschwächten feindlichen Basis möge die Diagrammstellung 120a dienen.

Diagramm 120a

Als Gegenstück zur eben demonstrierten Schwenkung möchten wir betonen, daß (siehe Diagramm 120a [nach 11. Kf1, Anm. W.K.] ) 11. ... Le7 nach 12. g3 und Kg2 mit nachfolgender Sicherung und Entlastung von d4 dem Weißen gute Chancen einräumen würde, denn nach erfolgter Konsolidierung kann der Anziehende sehr wohl den „Spieß umdrehen“ (siehe unter f). Gemeint ist hier der Angriff gegen den durch Bauer e5 eingeengten schwarzen Königsflügel, siehe Nimzowitsch - Tarrasch.

Ehe wir weitergehen, wollen wir dem Lernenden ganz besonders ans Herz legen, daß er sich darin üben möge, die gegnerische schwache Basis im Endspiel ausnützen zu können. Wir empfehlen das Studium der Partie Nr. 15 und ferner die Anwendung folgender Methode: Man stelle eine Bauernkette aufs Brett, z.B. Weiß d4, e5; Schwarz d5, e6; gebe jedem der Partner noch eine Anzahl Bauern (Weiß a2, b2, f2, g2, h2; Schwarz a7, b7, f7, g7, h7) und versuche, die Schwäche von d4 in reinem Bauernendspiel, bei vorhandenen Türmen oder bei je einem Turm und kleinem Offizier auszunützen.