6.4 Die „Materialisierung“ des abstrakten Begriffes: „die Linie“ oder „die Reihe“

Ein wichtiger Unterschied zwischen Linearoperationen im Mittelspiel und denen im Endspiel.

Ein eigentümlicher und garnicht leicht in die Augen fallender Unterschied wäre zunächst zu registrieren: Im Mittelspiel erfordert die Ausnützung einer Linie großen Energieaufwand, ist also durchaus aktivistisch. Man denke an den komplizierten Apparat, namentlich aber an den Vorpostenspringer. Die Linearoperationen im Endspiel dagegen verlaufen primitiv und – beschaulich. Vom Vorpostenspringer weit und breit keine Spur. Der glückliche Besitzer der Linie läßt sich Zeit. Höchstens, daß er gelegentlich einmal eine Hand voll Soldaten vorschickt, um einen Platz für den vordringenden Turm zu säubern. Also: Im Mittelspiel ist die Linearoperation aktivistisch, im Endspiel beschaulich (elegisch). Wir wollen dies an einigen Beispielen erläutern. Siehe Diagramm 82.

Diagramm 82

Ein anderes Beispiel zeigt mein Endspiel gegen Allan Nilsson (siehe Diagramm 69). Dort geschah fast garnichts, höchstens daß der weiße h-Bauer Miene machte, vorgehen zu wollen, und doch gelang es dem weißen Turm, in die achte Reihe einzudringen.

Typisch wäre auch der Verlauf nachstehend gezeigter Stellung: Weiß Kg5, Tc1, Ba2, b2, d4, f4; Schwarz Kg7, Td7, Ba7, b7, f5, g6.

Siehe nun Diagramm 79a. Die 6. Reihe hat sich dort zu einem greifbaren Punkt (g6) verdichtet.

Die Moralanwendung für den Lernenden wäre so zu formulieren: Ist die Linie (im Endspiel) dauernd in deinem Besitz, so sei um eventl. Einbruchspunkte nicht besorgt, letztere werden sich von selbst, fast ohne dein Zutun ergeben!

Wir bringen nun ein Schema und einige Schlußspiele.

Kleines Schema zum „Endspiel“, oder die 4 Elemente
  1. Zentralisierung
    1. des Königs: deckt die Basis; entlastet Türme; der Kampf um Terrainbesitz
      • Hilfsmittel: Versteck. Brückenbau
    2. des Springers und Läufers: schafft ein Versteck für den König
    3. der Dame: schafft dem eigenen Könige die Lust zum Wandern
      • Reiseabenteuer des „Wanderburschen“ und die Fahrt nach dem Schlosse
  2. Die aggressive Turm-, Springer- und Läuferstellung
    1. Schwäche des passiven Turmes:
      1. mangelnde Elastizität nach dem anderen Flügel hin
      2. wachsende Manövrierfreiheit des feindlichen Königs
      • die Tarrasch'sche Formulierung
    2. Schwäche des passsiven Springers: Eindeutigkeit, die Zugzwang begünstigt
    3. Schwäche des passiven Läufers: Langsamkeit im Frontwechsel
  3. Zusammenschweißen der isolierten Truppenteile und „das Ganze voran“
    1. Plombieren
    2. Versteck und Brückenbau
    3. „Zentralisierung“, auch am Flügel!
  4. „Materialisierung“ der Linie oder Reihe im Endspiel
    1. Ein wichtiger Unterschied: aktivistisch im Mittelspiel, beschaulich im Endspiel
    2. Das eigene Schwergewicht
    • Die „automatische“ Verwertung der Endspiellinie

Beispiel 1, Diagramm 83.

Diagramm 83

Beispiel 2 zeigt wiederum eine Zentralisierung. Siehe Diagramm 84.

Diagramm 84

Beispiel 3: Ein sehr kombinatorisches Endspiel. Der phantasiebegabte Franko-Russe scheint hierin meine System-Regeln durch den Sturmwind seiner sich übersprudelnden Eingebungen wegfegen zu wollen, es scheint aber auch nur so; in Wirklichkeit ist alles im Sinne der Systematik und Zentralisierung gespielt (siehe Diagramm 86).

Diagramm 86

Als 4. Beispiel lassen wir eine Königswanderung folgen, die uns insofern interessiert, als dieselbe unter dem Protektorat der zentralisierten Königin vor sich geht. Siehe Diagramm 87.

Diagramm 87