9.2 Der Angriff gegen die Bauernkette

Bauernkette als Blockadeproblem. Wieso und warum meine Bauernkettenphilosophie gelegentlich deren Erstveröffentlichung (1913, Wiener Schachzeitung, Heft 5-8) einen „Sturm der Entrüstung“ hervorrufen mußte. Der Angriff gegen die Basis und der kritische Augenblick.

Es gab eine Zeit - vor 1913 - wo man fest davon überzeugt war, daß eine Bauernkette mit dem Verschwindenlassen eines ihrer Kettenglieder auch gleichzeitig jeden Anspruch auf frohes Gedeihen fallen lassen müsse. Dieses Vorurteil als solches präzisiert zu haben, dieses Verdienst muß ich auf meine Rechnung schreiben, denn schon im Jahre 1911 habe ich an der Hand einiger Partien (gegen Salwe, Karlsbad 1911, und Löwenfisch, gegen Tarrasch 1912) demonstriert, daß ich die Bauernkette als reines Hemmungsproblem aufzufassen geneigt bin. Nicht auf die Vollzähligkeit der Kettenglieder käme es an, sondern einzig und allein darauf, ob die gegnerischen Bauern gehemmt blieben. Wie wir das erreichen, ob durch Bauern oder durch Figuren oder gar durch hinwirkende Türme bzw. Läufer, ist irrelevant! Die Hauptsache ist, daß sie (die Bauern) gehemmt würden! Diese meine damals höchst revolutionär wirkende Auffassung, zu der ich durch intensive Beschäftigung mit dem Blockadeproblem gelangt war, verfehlte nicht, einen Sturm der Entrüstung hervorzurufen. Ganz besonders aber ärgerten sich die Leute auch über mein Postulat: „Die Parole besteht in einem gegenseitigen Angriff auf die Füße der Bauernketten.“ Wir können uns nicht versagen, einen Passus aus einem Artikel von Alapin zu bringen, in welchem er gegen meine Theorie furchtbar wütet. Das alte Lied: ein Neuerer. Die Kritik schimpft wie besessen. Aber späterhin wird das Neue akzeptiert. Und zuletzt heißt es gar: Was, das soll neu sein! Das haben wir ja immer schon gekannt!

Ich bringe nun den vorerwähnten Passus des bekannten Theoretikers Alapin, bringe ihn ganz, ohne Änderungen und ohne auch nur ein Wort der Abwehr einfließen zu lassen, lasse seine Vorwürfe auf mein armes Haupt herniederprasseln und bemerke nur noch ausdrücklich, daß alle in diesem Passus anzutreffenden Klammern und Parenthesen nicht etwa Zwischenrufe des Angegriffenen, also meiner Wenigkeit sind, sondern vielmehr von Alapin herrühren. Wir geben nun Alapin das Wort:

Was nun seine sogenannten „philosophischen“(!? ...) Begründungen von 3. e4-e5 betrifft, so sehen sie wie folgt aus: Hiermit soll angeblich „vom Punkte d5 der Angriff des Anziehenden auf e6 übertragen werden“. (Vor dem Zuge 3. e5? existierte wohl ein „Angriff“ des Bd5 auf den Be4, weil d5xe4 eine Drohung war. Umgekehrt aber nicht; denn e4xd5 „drohte“, außer der Befreiung des Lc8, in absehbarer Zeit absolut nichts, weshalb auch von einer angeblichen „Übertragung“ des nicht existierenden weißen Angriffes keine Rede sein kann! ...) Nach dieser „Übertragung“ (3. e5?) soll laut Nimzowitsch „die Parole in einem gegenseitigen Angriffe auf die Füße der Bauernketten, d. h. in c7-c5 respektive f2-f4-f5 bestehen“. Es ist richtig, daß nach 3. e5? Schwarz mit 3. ... c5! den Angriff auf die weiße Bauernkette sofort eröffnet. In weitesten Kreisen ist aber etwas über die Möglichkeit von „f2-f4-f5“ in dieser Variante unbekannt? In sämtlichen 10 oben erwähnten „erfolgreichen“ praktischen Partien hat auch Nimzowitsch jedesmal Sg1-f3, ohne den f-Bauer anzurühren, gezogen!? ... Von einer „Gegenseitigkeit der Parole“ ist also wiederum nicht der leiseste Schatten eines wie immer gearteten Winkes vorhanden!? ... Indessen die allerwichtigste „Philosophie“(!? ...) erblickt Meister Nimzowitsch in dem „von ihm herrührenden“ und deshalb auf Seite 76 fett gedruckten, folgenden „Gesetz“: „Der Angriff auf eine Bauernkette kann von einem Kettenglied auf das andere übertragen werden“ ... Daß man es darf, ist sicher; verboten ist es nicht! ... Ob man’s kann, hängt vom Gegner, von den Umständen und vom Glück ab ... Was aber dieses „Gesetz“(!? ...) eigentlich reell bedeuten soll und warum es gar „Philosophie“ (?? ...) heißt, entgeht mir vollständig!?

So weit Alapin! Wenn ich diese Zeilen hier lese, so ist mir, als ob ich die qualvollen Wonnen, die das Schaffen neuer Werte einem schenkt, noch einmal geniessen dürfte. Wie herrlich! Schauen Sie doch nur, wie entrüstet der Mann ist, das ist das Neue, das Neuartige, das ihm unbekannte, das ihm die Zornadern an der Stirn schwellen läßt! Und ich, ich war dieser Neuerer!

Heute wissen wir es alle, daß alles, was ich da über die Bauernkette gesagt hatte, unbestreitbare Wahrheiten sind.

Wir, also die freundlichen Leser meines Buches, wissen aber auch a) daß nach 1. e2-e4 e7-e6 2. d2-d4 d7-d5 der Angriff des Anziehenden gegen d5 sehr wohl existiert. Alapin wußte es nicht, da ihm die von mir herrührende Theorie der offenen Linie damals noch unbekannt war. Ferner b) ist es heute absolut anerkannt, daß f2-f4-f5 die leicht nachzuweisende Tendenz ist in den durch e4-e5 (im 3. oder in einem späteren Zuge) charakterisierten Stellungen. Wir können eine ganze Masse daraus lernen, wenn wir näher untersuchen wollten, weshalb nach 1. e4 e6 2. d4 d5 der Angriff c7-c5, nicht aber f2-f4-f5 zunächst einmal das Feld beherrsche? Wie bereits betont, ist die auf Hemmung gerichtete Tendenz der weißen und schwarzen Kettenglieder eine durchaus gegenseitige. Die weißen Bauern wollen die schwarzen blockieren und umgekehrt. Nun sind aber nach 1. e4 e6 2. d4 d5 3. e5 die schwarzen Bauern auf dem Wege nach dem Zentrum hin gehemmt worden, während die entsprechenden weißen Bauern die Mitte bereits überschritten haben (man vergl. die Bauern e6 und e5 miteinander), daher sind wir berechtigt, die weißen Bauern als die hemmenden, die schwarzen aber als die gehemmten zu betrachten. Denn die Expansionslust der Bauern ist naturgemäß am größten in der Richtung nach dem Zentrum hin. Daher ist also Schwarz zum Angriff c7-c5 eher berechtigt, als der Weiße zu dem entsprechenden Vorstoß am anderen Flügel (f2-f4-f5). Die Drohung f2-f4-f5 existiert aber trotzdem als solche. Wenn der Angriff c7-c5 wirkungslos verpufft ist, dann kommt Weiß mit genanntem Bauernvorstoß „dran“.

Daß es in vielen Partien nicht zur Ausführung der genannten Drohung gekommen ist, beweist nur, daß Weiß vollauf mit der Abwehr des c7-c5-Angriff es zu tun gehabt hat, oder daß er den „ersten“ von den beiden Kriegsschauplätzen erwählt hat, nämlich den durch e4-e5 eingeengten Königsflügel (siehe unter 1. die Idee der beiden getrennten Kriegsschauplätze).

Was nun die Übertragung betrifft, so wird der Lernende bald einsehen, von welch großer Tragweite dieses von mir gegebene Gesetz ist. Aber lassen Sie uns systematisch vorgehen.