5. Kapitel - Der Abtausch
Ein kurzes Kapitel, das im wesentlichen nur über die möglichen Abtauschmotive orientieren möchte.
Um den Lernenden über das Gefahrvolle eines allzu energisch betriebenen Tauschhandels nach Möglichkeit aufzuklären, wollen wir im Nachfolgenden die wenigen Fälle registrieren, in denen ein Abtausch angezeigt erscheint. In allen übrigen Fällen ist jeder Abtausch, zumal solcher krampfhaft betrieben wird, vom Übel. Beim Meister ergibt sich der Abtauschprozeß von selbst. Man besetze Linien oder sichere sich die Herrschaft über einzelne strategisch wichtige Punkte und die – wünschenswert erscheinende – Abtauschmöglichkeit wird einem wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Vergleiche Partie 11, Anmerkung zum 35. Zuge.
Im ersten Kapitel haben wir den Abtausch mit nachfolgendem Tempogewinn analysiert. Ferner haben wir auch getauscht, um nicht zu einem Rückzüge oder zu einem tempoverlierenden Verteidigungszuge gezwungen zu sein. (Liquidieren mit nachfolgender Entwicklung.) Beide Fälle sind letzten Endes als Tempokombinationen zu bezeichnen, wie überhaupt die Tempo-Kalkulation bei jedem Abtausch eine wesentliche Rolle spielt. Man denke nur an unseren Abtausch des neuentwickelten Steines gegen einen Temposchlucker. Im Mittelspiel äußert sich das „Tempo“ in nachfolgend skizzierter Abtauschwendung:
1. Wir tauschen, um eine Linie ohne Zeitverlust zu besetzen (bzw. zu öffnen).
Das einfachste Beispiel wäre folgendes: Weiß: Te1, Le4; Schwarz: Kg8, Sc6, Lb3, Bb7,f7,g7,h7.
Weiß will eine Linie besetzen (bzw. öffnen), um in der 8. Reihe ein Matt applizieren zu können; zieht er aber zu diesem Zwecke 1. Lf3 oder 1. Ta1, so hat Schwarz Zeit etwas dagegen zu tun, beispielsweise 1. ... Kf8 oder 1. ... g6. Richtig ist der Abtausch 1. Le4xc6 . Schwarz hat keine Zeit das Matt zu decken, denn er „muß“ (auch im psychologischen Sinne zu verstehen) wiedernehmen.
2. Wir vernichten einen Verteidiger durch Abtausch.
Wir vernichten ihn also, weil wir ihn als Verteidiger anerkennen. Im einfachsten Falle als Verteidiger von materiellen Werten; jeder deckende Stein gilt uns als solcher. Aus den ersten 4 Kapiteln sind uns verschiedene deckende Steine bekannt geworden. Steine, die einen hindernden Bauer auf dem Wege einer offenen Linie deckten; Steine, die dem Blockeur hilfreich zur Seite standen und Bauern, die den Vorposten decken halfen u.a.m. Alle solche Steine zu vernichten ist in jedem einzelnen Falle erstrebenswert. Aber der Begriff „Verteidiger“ ist ein viel weiterer. Man kann auch Terrain verteidigen (z.B. den Eintritt zur 7. Reihe), oder sich gegen die Annäherung wehren (in der Partie Nr. 12 „deckt“ Se3 das Terrain g4 und f5 gegen eine eventuelle Annäherung durch Dg4 oder Tf5. Sehr bekannt ist ferner, daß ein Springer auf f6 den ganzen Rochadeflügel „deckt“ (die Annäherung Dh5 etc. wird unterbunden). Ähnlich verhält es sich mit einem zentral plazierten Blockeur (Weiß: Be3,f3, g3, h3,Sd4; Schwarz: Bd5, f7, g7, h7, Le7).
Dank seinem Angriffsradius deckt und sichert dieser ein breites Terrain. Auch dieser Sd4 wäre demnach als Verteidiger in unserem Sinne aufzufassen. Die Regel lautet: Jedem Verteidiger im engeren oder weiteren Sinne gelte deine Vernichtungswut! Im Diagramm 71 gewinnt Weiß durch eine Abtauschserie, hier treten Abtauschzüge beider Sorten vereint auf. Ein Blick auf die Stellung zeigt uns den verirrten Ritter h2 und dessen Verteidiger Lb8.
Diagramm 71
3. Wir tauschen, um nicht durch Rückzug Zeit zu verlieren.
Es handelt sich hierbei zumeist um einen angegriffenen Stein: vor die Wahl gestellt, ihn unter Zeitverlust zurückzuziehen oder ihn gegen einen feindlichen Stein zu tauschen, wählen wir letzteres, insbesondere tun wir dieses aber dann, wenn wir das durch den unterbliebenen Rückzug gesparte Tempo sehr nutzbringend verwenden können. Die Tempo-Frage muß also irgendwie aktuell sein. Das einfachste Beispiel wäre: Weiß Kb1, Tb3, Sd2, Bf3; Schwarz Kh8, Lf6, Sb6, Ba7, a5.
Wenn große Offiziere auf beiden Seiten angegriffen sind, so kommt es zu einer Abart von Abtauschfall 3, wir nennen sie:
3a. „Er sucht sein Leben so teuer als möglich zu verkaufen.“ In der Stellung: Weiß Kh2, Db2, Ba2, e5, h3; Schwarz Kb8, Sb7, Dd6, Ba4
Eigentümlicherweise ist ein solches „merkantiles“ Aufopfern der Dame dem Anfänger viel weniger geläufig als ein heroisches Hineinopfern. Letzteres bildet bei ihm eine häufige Erscheinung (es darf allerdings nicht gleich die Dame sein, vor der er einen höllischen Respekt hat), ersteres dagegen, ist ihm ganz fremd. Es ist übrigens gar kein Opfer, höchstens eines ganz vorübergehender Art, und vielleicht liegt gerade in dieser Verquickung des „Opfers“ mit nüchterner Materialerhaltungstendenz die psychologische Schwierigkeit begründet, der der Anfänger zu erliegen pflegt.
4. Wie und wo der Abtausch vor sich zu gehen pflegt
Raummangel verbietet uns detailliertes Eingehen, wir wollen nur in aller Kürze darauf hinweisen, daß
- die Vereinfachung für den an Material überlegenen Partner wünschenswert ist. Daraus ergibt sich, daß der Abtausch als Waffe benutzt werden kann, um den Gegner aus starken Stellungen zu verdrängen.
- Wenn zwei dasselbe wollen, kommt es zu einem Konflikt: Dieser Konflikt nimmt im Schach die Form einer Abtauschschlacht an. Zum Beispiel Weiß Bf3, g2, h2, Se4, sekundiert von Lc2, Te1 und vielen anderen Figuren; Schwarz Be5, g7, h7, Sf6, Lg6, Tf8 usw.
- Wenn man in einer Linie stark ist, so genügt simples Vorrücken daselbst, um Abtausch zu erreichen, denn der Gegner kann keine Invasion dulden, zum mindesten muß er sie durch Abtausch zu schwächen suchen.
- Schwache Punkte bzw. schwache Bauern haben die Tendenz, sich gegeneinander abzutauschen (= Austausch von Kriegsgefangenen). Zu letzterem Fall geben wir nachstehendes Endspiel. Siehe Diagramm 72.
Diagramm 72
Wir beschließen obiges Kapitel durch Vorführung zweier Schlußspiele.
Diagramm 73
Nach diesem klassischen Turnier-Endspiel lassen wir eine im Kaffeehaus gespielte Vorgabepartie folgen, in der das Abtauschmotiv in origineller Form auftauchte.