4.1 Zur Orientierung. Der in mancher Beziehung störende Nachbar und das in jeder Beziehung unangenehme Gegenüber. Die Bauernmehrheit. Der Kandidat. Die Geburt des Freibauern. Die Regel vom Kandidaten.

Ein Bauer ist „frei“ (Freibauer), wenn er weder einen feindlichen Bauern vor sich (also in der gleichen Linie) noch einen solchen in der Nebenlinie zu fürchten hat und solchermaßen unbehindert zur Dame gehen kann. (Siehe Diagramm 46.)

Diagramm 46

Weißer a-, e-Bauer und schwarzer d-Bauer sind frei. Der e-Bauer ist „frei“ aber blockiert.

Ist ein Bauer in seinem Vorwärtsschreiten bloß durch gegnerische Offiziere gehemmt (blockiert), so täte dieses dem Begriffe „Freiheit“ noch keinen Abbruch. Es liegt eine besondere Anerkennung für einen Bauern in dem Umstande, daß gegnerische Offiziere einen Teil ihrer eigenen Wirkungskraft opfern müssen, nur um ihn, den Bauersmann zu bewachen, und zwar andauernd zu bewachen! – Wenn wir uns übrigens daran erinnern wollten, daß der Bauer als solcher noch einen anderen Vorzug vor den Offizieren genießt, nämlich den, daß er (der Bauer) der geborene Verteidiger sei, so kommen wir langsam dahinter, daß ein Bauer auch auf den 64 Feldern aller Achtung wert sei. Wer hemmt einen gegnerischen „Bauern mit Ambition“ am besten? Der Bauer. Wer deckt einen eigenen Stein am sichersten? Der Bauer. Und welcher Stein arbeitet billigst? (die billigste Arbeitskraft?) Der Bauer wiederum, denn dem Offizier liegt das chronische Beschäftigtsein (etwa das Hemmen oder das Decken) keineswegs, auch würden hierdurch der aktiven Armee Truppen entzogen werden. Im Falle der Verwendung eines Bauern trifft solches dagegen in weit geringerem Maße zu.

In der Diagrammstellung 46 sind weder der b-Bauer noch auch der g-Bauer frei, indes erscheint ersterer immerhin weniger behindert als letzterer, denn der b-Bauer hat doch zum mindesten keinen Antagonisten. Das Gegenüber wäre etwa mit einem Feinde zu vergleichen, der Seitenbauer aber erinnert eher an einen gemütlichen Nachbar, der ja aber auch, wie bekannt, seine kleinen Schattenseiten haben kann; wenn wir beispielsweise in größter Eile die Treppen hinunterstürzen, weil wir zu einem wichtigen Rendezvous müssen, so geschieht es nicht selten, daß plötzlich ein Nachbar auftaucht, uns in ein längeres Gespräch verwickelt (über Wetter und Politik bis zu den teuren Bierpreisen), um uns solchermaßen, genau wie der schwarze c-Bauer im Diagramm 46 es tat, dauernd am Vorbeigehen zu hindern!

Immerhin, ein etwas geschwätzig veranlagter Nachbar ist noch lange kein grimmiger Feind, oder auf unseren Fall übertragen: ein störender Seitenbauer ist noch lange kein Antagonist. In unserem Diagramm hat der weiße g-Bauer demgemäß gar keine Expansionslust, während der b-Bauer doch immerhin vorwärtsstrebt.

Wenden wir uns nun der „Familie“ des Freibauern zu. In diesem Zusammenhang wäre zunächst die Mehrheit zu erwähnen. Im Anfang der Partie stehen alle Bauern gleichmäßig verteilt da, aber schon nach dem ersten Bauerntausch im Zentrum (z.B.

) sind Bauernmehrheiten zu sichten: Weiß hat 4 gegen 3 am Königsflügel, Schwarz 4:3 am Damenflügel. Denken wir uns den schwarzen d-Bauern zwecks Hemmung von Be4 auf d6 stehend, so wäre die Konfiguration am Königsflügel folgende: Weiß e4, f2, g2, h2 gegen f7, g7, h7, und die am Damenflügel: Schwarz d6, a7, b7, c7 gegen a2, b2, c2. Im Verlaufe der Partie kann Schwarz zum Vorstoß f7-f5 gelangen (Tötung des freien Zentralbauern), die Mehrheit als solche träte dann noch deutlicher in die Erscheinung, nämlich Weiß f2, g2, h2 gegen g7 und h7. Regel: Jede gesunde, nicht kompromittierte Bauernmehrheit muß einen Freibauern ergeben können. (Siehe Diagramm 47)

Diagramm 47

Eine Mehrheit am Königsflügel

Von den drei Bauern am Königsflügel ist der f-Bauer der einzige, der keinen Antagonisten hat, der f-Bauer ist also der am wenigsten behinderte und hat demgemäß das größte Anrecht darauf, „frei“ zu werden. Er ist also der rechtmäßige Kandidat. Und diesen Titel geben wir ihm auch, wir geben ihm einen akademischen Grad: Herr Kandidat (Also derjenige Bauer in einer Bauernmehrheit, der keinen Antagonisten hat, ist der Kandidat). Und daraus ergibt sich die lakonische Regel: der „Höflichkeitspflicht“ diktiert wird. (Also unvergeßlich für jeden, der sich einen höflichen Mann nennt, und das tun wir alle.) Wissenschaftlich exakt ausgedrückt präsentiert sich die Regel folgendermaßen: die Spitze des Vorgehens liegt im Kandidaten, die anderen Bauern sind bloß als die Begleiter zu betrachten,

Wie einfach! Und doch wie oft sieht man schwächere Spieler in der Diagrammstellung mit dem g-Bauern vorlaufen; darauf folgt g7-g5 und die Mehrheit ist wertlos. Ich habe mir häufig den Kopf darüber zerbrochen, weshalb die mindergeübten Spieler mit g2-g4 beginnen. Die Sache ist einfach zu erklären, die Betreffenden sind unschlüssig, ob sie nun rechts (h4) oder links (f4) beginnen sollen und in ihrer Ratlosigkeit entschließen sie sich nach guter Bürgerart dazu, den goldenen Mittelweg zu wählen.